In der Nacht (German Edition)
Gangster um den bekannten Unternehmer Albert White handelte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Albert White in der Bostoner Gesellschaft eine beneidenswerte Position innegehabt – die eines mutmaßlichen Schwarzbrenners, Rumschmugglers und Kriminellen. Es wurde gemunkelt, dass er mit dem organisierten Verbrechen unter einer Decke steckte, doch allgemein herrschte die Auffassung, dass er mit dem brutalen Unwesen, das mittlerweile die Straßen aller großen Städte heimsuchte, nichts am Hut hatte. Albert White galt als »guter« Alkoholschmuggler, als freundlicher Förderer eines an sich harmlosen Lasters, der in seinen eierschalenfarbenen Anzügen eine wahrhaft eindrucksvolle Erscheinung abgab und seine Zuhörer gern auch im größeren Kreis mit Anekdötchen aus Kriegstagen und seiner Zeit als Cop zu amüsieren pflegte. Doch nach der Statler-Schießerei (ein Schlagwort, das E. M. Statler der Presse vergeblich auszureden versuchte) war Schluss mit lustig. Umgehend wurde ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt. Selbst wenn er am Ende womöglich straffrei ausging, seine Tage als gerngesehener Gast der städtischen Honoratioren waren ein für alle Mal vorbei. Sosehr die feinen Bürger ein wenig niederen Nervenkitzel zu schätzen wussten, war man sich in den Salons und Wintergärten von Beacon Hill darüber einig, dass es gewisse Grenzen gab.
Und schließlich war da noch das Verhängnis, das den stellvertretenden Polizeichef Thomas Coughlin ereilte, der lange als Nachfolger für das Amt des Commissioners, ja, sogar als Kandidat für den Senat gehandelt worden war. Als die Spätausgaben am nächsten Tag verbreiteten, dass der verhaftete und zur Räson gebrachte Gangster Coughlins eigener Sohn war, verurteilten die meisten Leser ihn zunächst keineswegs – schließlich wusste man ja, wie schwierig es war, seine Kinder in diesen sündhaften Zeiten zu verantwortungsvollen Bürgern zu erziehen. Doch dann erschien ein Artikel, in dem ein Reporter des Examiner , Billy Kelleher, von seiner Begegnung mit Joseph Coughlin auf der Treppe im Statler berichtete. Kelleher hatte die Polizei benachrichtigt und anschließend mit angesehen, wie Thomas Coughlin seinen Sohn höchstpersönlich an die Löwen unter seinem Kommando verfüttert hatte. Und nun ging die Öffentlichkeit gehörig auf Abstand. Bei der Erziehung eines Kinds versagt zu haben, war eine Sache – ihn ins Koma prügeln zu lassen, eine ganz andere.
Als Thomas ins Büro des Commissioners am Pemberton Square beordert wurde, war ihm nur allzu bewusst, dass er diese Räumlichkeiten nie sein Eigen nennen würde.
Commissioner Herbert Wilson stand hinter seinem Schreibtisch und deutete auf einen Sessel. Wilson leitete die Behörde seit 1922; sein Vorgänger Edwin Upton Curtis hatte dem Amt mehr Schaden zugefügt als der deutsche Kaiser seinen belgischen Nachbarn und war gnädigerweise an einem Herzanfall verschieden.
»Setzen Sie sich doch, Tom.«
Thomas Coughlin hasste es, Tom genannt zu werden, hasste die herablassende Art, die plumpe Vertraulichkeit, die hinter der Verkürzung seines Namens steckte.
Er setzte sich.
»Wie geht’s Ihrem Sohn?«, fragte der Commissioner, der sich inzwischen auch gesetzt hatte.
»Er liegt im Koma.«
Wilson nickte und atmete langsam durch die Nasenlöcher aus. »Und mit jedem Tag wird er mehr zum Heiligen.« Er musterte ihn über den Schreibtisch hinweg. »Sie sehen furchtbar aus. Haben Sie ein bisschen schlafen können?«
Thomas schüttelte den Kopf. »Ich habe kein Auge zugetan, seit…« Die vergangenen zwei Nächte hatte er, zerfressen von Selbstvorwürfen, am Krankenhausbett seines Sohnes verbracht und zu einem Gott gebetet, an den er schon lange nicht mehr wirklich glaubte. Der zuständige Arzt hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass Joe möglicherweise einen Hirnschaden davontragen würde. In seiner blinden Wut – jener Weißglut, die schon seinen Dreckskerl von Vater zu Recht das Fürchten gelehrt hatte, ebenso wie seine Frau und seine Kinder – hatte er seine Untergebenen angewiesen, seinen eigenen Sohn zum Krüppel zu schlagen, und nun quälte ihn sein Gewissen gleich einer auf glühenden Kohlen erhitzten Klinge, scharfer, rußgeschwärzter Stahl, von dessen Kanten sich Rauch emporschlängelte, bevor er sich in seine Eingeweide bohrte, so schmerzhaft und tief, dass ihm schwarz vor Augen wurde und er keine Luft mehr bekam.
»Was ist mit den beiden anderen, den Bartolos?«, fragte der Commissioner. »Gibt’s schon was
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