In der Nacht (German Edition)
Haar hatte sich ziemlich gelichtet, wie Joe auffiel; an den Seiten war es zwar noch dicht und ölig, aber oben mittlerweile recht übersichtlich.
»Die Cops haben uns abgefangen.«
Erneut sah Dion über die Schulter. »Zufall.«
»Von wegen Zufall. Wir hatten die Gegend seit Wochen ausgespäht, und für die Polizei gab es keinen Grund, auf einmal mitten in der Pampa aufzutauchen, um sich dort als Freund und Helfer hervorzutun.«
Dion nickte ein paarmal. »Also, ich habe uns jedenfalls nicht verpfiffen.«
»Ich auch nicht«, sagte Joe.
Als sie sich dem Ende des Tunnels näherten, erkannte Joe, dass es sich tatsächlich um eine Tür aus gebürstetem Stahl mit einem Bolzenschloss handelte. Statt Straßengeräuschen hörte er nun das entfernte Klirren von Besteck, das Klappern von Tellern und die Schritte von hin- und hereilenden Kellnern. Joe zog die Uhr seines Vaters hervor und ließ den Deckel aufspringen: zwölf Uhr mittags.
Dion förderte einen Riesenschlüsselbund aus den Untiefen seiner weiten Hose zutage und entriegelte die Tür. Dann löste er den Schlüssel vom Bund und reichte ihn Joe. »Da, nimm. Glaub mir, den wirst du noch gut brauchen können.«
Joe steckte den Schlüssel ein. »Wem gehört der Schuppen?«
»Er gehörte Ormino.«
»Gehörte?«
»Oh, du hast heute noch keine Zeitung gelesen?«
Joe schüttelte den Kopf.
»Ormino hat gestern Abend reichlich Blei gefressen.«
Dion öffnete die Tür, und sie stiegen eine Leiter empor, die zu einer weiteren, unverschlossenen Tür führte. Dahinter lag ein großer muffiger Raum mit Betonfußboden. Entlang der kahlen Wände standen Tische, auf denen sich die verschiedensten Gerätschaften drängten – Gärbottiche und Pressen, Destillierkolben und Bunsenbrenner, Bechergläser, Kühlrohre und jede Menge anderer Utensilien.
»Absolute Spitzenware, vom Allerfeinsten.« Dion deutete auf die an der Wand befestigten Thermometer, die durch Gummischläuche mit den Destillen verbunden waren. »Wenn du weißen Rum herstellen willst, musst du die Fraktion bei einer Temperatur zwischen 168 und 186 Grad Fahrenheit abtrennen – es sei denn, du willst mit deinem Fusel jemanden umbringen. Aber mit diesen Schätzchen hier kannst du gar nichts falsch machen, weil –«
»Ich weiß, wie man Rum macht«, sagte Joe. »Nach zwei Jahren Knast brenne ich dir, was immer du willst, im Notfall mache ich sogar Sprit aus deinen verdammten Tretern. Allerdings fehlen mir hier zwei Dinge, ohne die wir ziemlich aufgeschmissen sind.«
»Oh?«, sagte Dion. »Und die wären?«
»Melasse und Arbeiter.«
»Tja«, sagte Dion. »Ich hätte dir sagen sollen, dass die Sache einen Haken hat.«
Sie liefen durch ein leeres Speakeasy, ließen an einer weiteren Tür noch einmal das Losungswort hören und betraten die Küche eines italienischen Restaurants in der East Palm Avenue. Im Gastraum setzten sie sich an einen Tisch mit Blick auf die Straße; unweit entfernt von ihnen befand sich ein großer schwarzer Ventilator, den selbst drei Männer und ein Ochse nur mit Mühe von der Stelle bewegt hätten.
»Unser Zwischenhändler hat einen Engpass.« Dion entfaltete seine Serviette, steckte sie sich in den Hemdkragen und strich sie über seiner Krawatte glatt.
»Offensichtlich«, sagte Joe. »Und warum?«
»Anscheinend sind ein paar seiner Boote versenkt worden.«
»Wer ist dieser Zwischenhändler?«
»Er heißt Gary L. Smith.«
»Ellsmith?«
»Nein«, sagte Dion. »Das L ist seine mittlere Initiale. Er besteht drauf.«
»Wieso?«
»Ist hier im Süden so üblich.«
»Oder bloß unter Arschlöchern?«
»Auch möglich.«
Der Ober brachte die Speisekarten, und Dion bestellte Limonade für sie – die beste, die Joe je getrunken hatte, wie er ihm versicherte.
»Wozu brauchen wir überhaupt einen Zwischenhändler?«, fragte Joe. »Warum machen wir unsere Geschäfte nicht direkt mit dem Lieferanten?«
»Tja, da gibt’s jede Menge. Aber alles Kubaner. Smith übernimmt das für uns. Er kümmert sich auch um die Dixies.«
»Die Schmuggler.«
Dion nickte, während der Ober ihre Limonade brachte. »Ja, die Provinzgangster von hier bis Virginia. Sie transportieren den Stoff quer durch Florida und die Küste rauf.«
»Aber von den Ladungen sind auch viele nicht angekommen.«
»Ja.«
»Und wie viele Boote können sinken, wie viele LKW s überfallen werden, bevor es nicht mehr einfach nur Pech ist?«
»Tja«, sagte Dion, da ihm augenscheinlich nichts anderes einfiel.
Joe nippte an
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