In der Nacht (German Edition)
seiner Limonade. Ob es die beste war, die er je getrunken hatte, ließ sich schwer sagen, und selbst wenn – es fiel ihm schwer, sich für eine beschissene Limo zu begeistern.
»Habt ihr die Maßnahmen ergriffen, die ich in meinem Brief vorgeschlagen hatte?«
Dion nickte. »Bis aufs i-Tüpfelchen.«
»Und wie viele Ladungen haben ihr Ziel erreicht?«
»Die meisten.«
Joe überflog die Speisekarte, aber er kannte kein einziges Gericht.
»Nimm das Ossobuco«, empfahl Dion. »Ist wirklich vom Feinsten.«
»Bei dir ist alles vom Feinsten«, sagte Joe. »Die Limonade, die Thermometer…«
Dion zuckte mit den Schultern und schlug seine Karte auf. »Mein Geschmack hat sich eben entwickelt.«
»Also das Ossobuco«, sagte Joe. Er klappte seine Speisekarte zu und warf dem Ober einen Blick zu. »Lass uns essen, und dann statten wir Gary L. Smith einen Besuch ab.«
»Mit Vergnügen.«
Auf einem Tischchen im Vorraum von Gary L. Smiths Büro lag die Morgenausgabe der Tampa Tribune . Das Bild auf der Titelseite zeigte Lou Orminos Leiche, die in einem Wagen mit zerschossenen Fenstern und blutbefleckten Sitzen lag – eine Schwarzweißaufnahme, die – wie jedes Foto dieser Art – dem Toten jegliche Würde nahm. Die Schlagzeile lautete:
MUTMASSLICHER UNTERWELT-BOSS ERMORDET
»Kanntest du ihn gut?«
Dion nickte. »Ja.«
»War er dir sympathisch?«
Dion zuckte mit den Schultern. »Er war kein übler Typ. Hatte zwar die Angewohnheit, sich bei unseren Unterredungen die Fußnägel zu schneiden, aber zu Weihnachten hat er mir eine Gans geschenkt.«
»Eine lebendige?«
Dion nickte. »Bis wir bei mir zu Hause waren.«
»Welche Gründe hatte Maso, ihn abservieren zu wollen?«
»Hat er dir das nicht gesagt?«
Joe schüttelte den Kopf.
Dion hob die Schultern. »Mir auch nicht.«
Ein Weilchen lauschte Joe nur dem Ticken einer Uhr und Gary L. Smiths Sekretärin, wie sie in den Hochglanzseiten der neuesten Photoplay -Ausgabe blätterte. Sie hieß Miss Roe, hatte dunkles Haar, das sich als kurzer Bob an ihren Kopf schmiegte, und trug eine kurzärmlige silberfarbene Hemdbluse mit einem schwarzen Damenschlips, der wie ein erhörtes Gebet über ihre Brüste fiel. Die Art und Weise, wie sie sich auf ihrem Stuhl bewegte – nein, kaum merklich wand –, erregte Joe derart, dass er die Zeitung zusammenfaltete, um sich erst einmal ein bisschen Luft zuzufächeln.
Du lieber Gott, dachte er. Ich muss dringend mal wieder eine Nummer schieben.
Er beugte sich zu Dion. »Hatte er Familie?«
»Wer?«
»Na, wer wohl?«
»Lou? Ja, hatte er.« Dions Miene verfinsterte sich. »Ist das irgendwie wichtig?«
»Nur so ’ne Frage.«
»Wahrscheinlich hat er sich die Fußnägel auch vor Frau und Kindern geschnitten. Die sind bestimmt froh, ihn endlich los zu sein.«
Die Sprechanlage auf dem Tisch der Sekretärin summte, und eine dünne Stimme erklang: »Miss Roe, schicken Sie die Jungs rein.«
Joe und Dion erhoben sich.
»Jungs«, sagte Dion.
»Jungs«, sagte Joe, schüttelte seine Manschetten aus und fuhr sich durch die Haare.
Gary L. Smith hatte winzige Zähne, die wie Maiskörner aussahen und fast genauso gelb waren. Er lächelte, während sie sein Büro betraten und Miss Roe die Tür hinter ihnen schloss, stand aber nicht auf, um sie zu begrüßen, und besonders viel Mühe gab er sich bei seinem Lächeln auch nicht. Die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Jalousien drangen, tauchten den Raum in bernsteinfarbenes Licht. Smith gab den typischen Südstaaten-Gentleman – weißer Anzug, weißes Hemd, schmale schwarze Krawatte. Während sie sich setzten, musterte er sie mit einem Anflug von Verwirrung, was Joe als Angst interpretierte.
»Sie sind also Masos neuer Mann.« Smith schob einen Humidor über den Tisch. »Bedienen Sie sich. Die besten Zigarren weit und breit.«
Dion grunzte.
Joe winkte ab, doch Dion grapschte sich gleich vier Zigarren, steckte drei ein und biss das Ende der vierten ab. Er spuckte es in die Hand und deponierte es auf der Tischkante.
»Also, was führt Sie zu mir?«
»Ich bin gebeten worden, mich ein bisschen um Lou Orminos Geschäfte zu kümmern.«
»Aber wohl nur vorläufig.« Smith zündete sich seine eigene Zigarre an.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Als Lous Nachfolger sind Sie hier aufgeschmissen. Ich sage das nur, weil die Leute hier gern mit Geschäftspartnern arbeiten, die sie kennen. Und Sie sind ein völlig unbeschriebenes Blatt – nichts für ungut.«
»Wen würden Sie denn
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