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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Esteban.
    »Mit Sicherheit«, sagte Joe.
    Esteban schwieg einen Moment lang ergriffen, als könne er die Vorstellung nicht ertragen. Doch dann war seine düstere Stimmung schlagartig wie weggeblasen. »Wenn Sie die Sache übernehmen, sieht Albert White von uns keinen Tropfen Melasse oder Rum mehr. Nie wieder.«
    »Auch keine Zuckerlieferungen?«
    »Nein.«
    »Abgemacht«, sagte Joe. »Was brauchen Sie?«
    »Waffen.«
    »Okay. Welcher Art?«
    Esteban griff hinter sich und nahm ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch. »Browning-Schnellfeuergewehre, Automatikpistolen und Fünfzig-Kaliber-Maschinengewehre mit Dreibein.«
    Joe sah zu Dion, und beide lachten.
    »Sonst noch was?«
    »Ja«, sagte Esteban. »Granaten. Und Kastenminen.«
    »Was, bitte, sind Kastenminen?«
    »Ist alles auf dem Schiff«, sagte Esteban.
    »Welchem Schiff?«
    »Einem Transportschiff des Militärs«, sagte Ivelia. »Pier sieben.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie zur Wand hinter sich. »Neun Blocks von hier.«
    »Wir sollen ein Kriegsschiff überfallen?«, fragte Joe.
    »Genau.« Esteban warf einen Blick auf seine Uhr. »Und möglichst bald, da sie in zwei Tagen auslaufen.« Er reichte Joe ein zusammengefaltetes Stück Papier. Als Joe es entgegennahm, erinnerte er sich an die Besuche seines Vaters im Gefängnis, und er spürte einen Kloß im Hals. Zwei Jahre lang hatte er sich wieder und wieder einzureden versucht, dass jene Zettel – die mit ihnen verbundene Belastung – nichts mit dem Tod seines Vater zu tun gehabt hatten. Und manchmal glaubte er tatsächlich fast daran.
    Circulo Cubano, 8   :   00   Uhr.
    »Fragen Sie nach Graciela Corrales«, sagte Esteban. »Alle weiteren Anweisungen erhalten Sie von ihr.«
    Joe steckte den Zettel ein. »Ich nehme keine Befehle von Frauen entgegen.«
    »Sollten Sie aber«, gab Esteban zurück. »Es sei denn, Ihnen liegt doch nichts daran, dass Albert White aus Tampa verschwindet.«

13
    Offene Wunden
    Dion fuhr Joe zum Hotel, und Joe bat ihn zu warten, bis er sich entschieden hatte, ob er heute noch einmal ausgehen wollte.
    Der Page in seiner roten Samtuniform und dem dazugehörigen Fez sah aus wie ein Zirkusaffe. Er schoss hinter einer Topfpalme auf der Veranda hervor, nahm Joes Koffer an sich und ging voraus zur Rezeption, während Dion am Wagen verblieb. Joe trat an den marmornen Empfangstresen und trug sich mit einem goldenen Federhalter ins Gästebuch ein. Der Rezeptionist, ein energischer Franzose mit unverwüstlichem Lächeln und Augen, die so tot wie die einer Puppe waren, reichte ihm einen Messingschlüssel, an dem eine rote Samtkordel nebst einem schweren goldenen Schildchen mit seiner Zimmernummer hing: 509.
    Tatsächlich war es sogar eine Suite, mit einem Bett so groß wie Südboston, eleganten französischen Stühlen und einem eleganten französischen Schreibtisch, von dem aus man die See überblickte. Natürlich gab es auch ein Bad; es war größer als seine Zelle in Charlestown. Der Page zeigte ihm, wo sich die Schalter für die Lampen und Deckenventilatoren befanden. Er öffnete einen Wandschrank aus Zedernholz, in dem sich Fächer für Wäsche befanden. Als er nebenbei darauf hinwies, dass alle Zimmer mit Radio ausgestattet waren, musste Joe unwillkürlich an Emma und das Hotel Statler denken. Er drückte dem Pagen ein Trinkgeld in die Hand, scheuchte ihn hinaus und setzte sich auf einen der eleganten Stühle. Während er eine Zigarette rauchte und auf die dunkle See hinausblickte, in der sich das riesige Hotel spiegelte, lauter schiefe Rechtecke aus Licht auf schwarzem Untergrund, fragte er sich, was sein Vater und Emma jetzt wohl gerade sahen. Konnten sie ihn sehen? Konnten sie in die Vergangenheit und in die Zukunft blicken, in Welten, die weit jenseits seiner Vorstellungskraft lagen? Oder sahen sie überhaupt nichts? Weil sie selbst nicht mehr existierten? Sie waren nicht mehr da, sie waren tot, ein Haufen Knochen in einer Kiste, und in Emmas Fall nicht mal das.
    Er befürchtete, dass sonst nichts von ihnen übriggeblieben war. Nein, er wusste es, während er auf diesem lächerlichen Stuhl saß und auf die gelben Fenster hinaussah, die sich im schwarzen Wasser spiegelten.
    Er sah an die hohe Zimmerdecke, ließ den Blick über den Kronleuchter, das ausladende Bett und die wadendicken Vorhänge schweifen, und auf einmal fühlte er sich nicht mehr wohl in seiner Haut.
    »Es tut mir leid«, sagte er leise zu seinem Vater, auch wenn ihm klar war, dass er ihn nicht hören konnte.

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