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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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ganze Weile schwiegen sie, doch Joe kam es vor, als würden sie sich ganze Romane erzählen. Erleichtert begriff er, dass Dion reinen Tisch machen wollte.
    Dion kippte einen ordentlichen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Woher wusstest du, dass ich uns verpfiffen habe?«
    »Weil ich es nicht war«, sagte Joe.
    »Genauso gut hätte es mein Bruder gewesen sein können.«
    »Friede seiner Asche«, sagte Joe. »Aber Paolo war so beschränkt, dass er nicht mal einen Blinden hinters Licht geführt hätte.«
    Dion nickte und sah eine kleine Ewigkeit auf seine Schuhe, ehe er weitersprach. »Glaub mir, es wäre ein Segen.«
    »Was?«
    »Der Tod.« Dion blickte ihn an. »Ich habe meinen Bruder auf dem Gewissen, Joe. Hast du eine Vorstellung, was es bedeutet, damit weiterleben zu müssen?«
    »Ich denke schon.«
    »Du hast keinen blassen Schimmer.«
    »Glaub mir, ich weiß Bescheid.«
    »Er war zwei Jahre älter als ich«, sagte Dion, »aber eigentlich war ich der große Bruder, verstehst du? Ich war derjenige, der immer auf ihn aufpassen musste. Erinnerst du dich, wie wir früher zusammen Zeitungsstände abgefackelt haben? Damals hat unser kleiner Bruder noch gelebt. Wir nannten ihn Seppi, von Giuseppe, weißt du noch?«
    Joe nickte. Merkwürdig – an den Kleinen hatte er schon seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht. »Er hatte Kinderlähmung.«
    Dion nickte ebenfalls. »Giuseppe war erst acht, als er gestorben ist, und unsere Mutter hat sich davon nie mehr richtig erholt. Ich habe damals zu Paolo gesagt, dass es nicht in unserer Macht stand, ihn zu retten. Es war einfach Gottes Wille, und Gott kriegt immer seinen Willen. Aber wir beide, Paolo und ich?« Er verschränkte die Daumen ineinander und führte die Fäuste zu den Lippen. »Wir würden uns gegenseitig beschützen.«
    Hinter ihnen ließen Bassrhythmen und stampfende Füße die Wände erbeben. Vor ihnen erhoben sich Moskitoschwärme wie Staubwolken aus dem Sumpf und strebten ins Mondlicht.
    »Tja, und was nun? Da haben mich Masos Leute oben in Montreal aufgestöbert und hierhergeholt, mir ein richtig feines Leben ermöglicht. Und wozu?«
    »Warum hast du es getan?«, fragte Joe.
    »Weil er es so wollte.«
    »Albert?«
    »Wer sonst?«
    Joe schloss die Augen einen Moment lang und ermahnte sich, ruhig und langsam durchzuatmen. »Du hast in seinem Auftrag gehandelt?«
    »Ja.«
    »Was hast du dafür kassiert?«
    »Keinen Cent, gar nichts. Er hat mir Kohle angeboten, aber ich wollte das Scheißgeld von dem Dreckskerl nicht.«
    »Arbeitest du noch für ihn?«
    »Nein.«
    »Als Märchenerzähler taugst du nicht viel, D.«
    Dion förderte ein Springmesser zutage und legte es auf den kleinen Tisch zwischen ihnen. Es folgten zwei langläufige 38er und eine kurznasige 32er, und schließlich packte er noch einen Totschläger und einen Schlagring dazu, ehe er Joe die leeren Handflächen hinhielt.
    »Nach meiner Beerdigung«, sagte er, »kannst du dich in Ybor ja mal nach einem gewissen Brucie Blum umhören. Manchmal treibt er sich in der Gegend um die Sixth Avenue herum. Er kann nicht mehr richtig gehen, brabbelt wirres Zeug vor sich hin, hat keine Ahnung davon, dass er mal ’ne große Nummer war. Hat für Albert gearbeitet, der Bursche, ist gerade mal sechs Monate her. Lief immer in todschicken Anzügen herum, hat die Weiber reihenweise flachgelegt, und jetzt hinkt er mit ’nem Becher durch die Straßen, bettelt um Kleingeld, pisst sich in die Hose und kann seine verdammten Schuhe nicht mehr selber zubinden. Und was war seine letzte Amtshandlung als große Nummer? Er hat mich in einem Speakeasy drüben in der Palm Avenue angequatscht, Albert wolle mit mir sprechen, und ich solle schleunigst meinen Arsch in Bewegung setzen, sonst wäre Schluss mit lustig. Und das war’s dann tatsächlich, weil ich ihm den verdammten Schädel eingeschlagen habe. Diese Nummer damals war etwas Einmaliges, und sonst habe ich mit Albert nichts am Hut. Frag einfach Brucie Blum.«
    Joe nippte an seinem Rum – was für ein mieser Fusel – und schwieg.
    »Willst du mich selbst umlegen? Oder überlässt du’s jemand anderem?«
    »Das erledige ich schon selbst.«
    »Okay.«
    »Falls ich dich umlege.«
    »Wäre nett, wenn du mich nicht länger auf die Folter spannen würdest.«
    »Was dir gerade in den Kram passt, ist mir scheißegal.«
    Das brachte Dion zum Schweigen. Drinnen wurde längst nicht mehr so wild getanzt, und auch der Bassist spielte jetzt leiser. Mehr und mehr

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