In der Nacht (German Edition)
ihre Schönheit keinerlei Begierde in ihm. Sie hatte etwas Heiliges an sich, das man nicht beschmutzen, sondern verehren, ja anbeten wollte.
»Entschuldige, Vater«, sagte sie. »Ich dachte, du wärst allein.«
»Du störst nicht, Loretta. Die Gentlemen wollten sowieso gerade gehen.« Er hielt kurz inne. »Denk an deine Manieren.«
»Oh, tut mir leid, Vater.« Sie wandte sich zu Joe und Dion und machte einen kleinen Knicks. »Miss Loretta Figgis, Gentlemen.«
»Joe Coughlin, Miss Loretta. Sehr erfreut.«
Als Joe ihr die Hand schüttelte, wäre er am liebsten vor ihr auf die Knie gegangen. Den ganzen Nachmittag über wollte ihm ihre Unschuld nicht mehr aus dem Kopf gehen, und immer wieder beschäftigte ihn die Frage, wie schwierig es sein musste, Vater eines so zerbrechlichen Geschöpfs zu sein.
Ihr Tisch im Vedado Tropicale, der sich rechts von der Bühne befand, bot ihnen beste Sicht auf die Band und die Tänzerinnen. Es war noch so früh am Abend, dass die Combo – ein Schlagzeuger, ein Pianist, ein Trompeter und ein Posaunist – zwar schwungvoll aufspielte, aber noch nicht richtig losfetzte. Die Kostüme der Tänzerinnen waren kaum mehr als dünne blassblaue Fähnchen, dazu trugen sie Kopfschmuck in derselben Farbe: paillettenbesetzte Stirnbänder mit Federbüschen, silberne Haarnetze mit matt glänzenden Perlenrosetten und Fransen. Beim Tanzen stemmten sie die eine Hand in die Hüfte, während sie die andere in die Luft reckten oder ins Publikum deuteten, und ließen gerade genug nackte Haut sehen, um bei den speisenden Gattinnen keinen Anstoß zu erregen und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Herren eine Stunde später wiederkommen würden.
Joe fragte Dion, ob es sich um das beste Restaurant der Stadt handelte.
Dion grinste, eine Gabel mit lechón asado und gebratener Yucca vor dem Mund. »Von ganz Florida.«
Joe lächelte. »Zugegeben, gar nicht übel.« Joe hatte ropa vieja mit schwarzen Bohnen und gelbem Reis bestellt. Er wischte seinen Teller sauber und wünschte, die Portion wäre größer gewesen.
Der Maître d’ trat zu ihnen und informierte sie darüber, dass ihre Gastgeber zum Kaffee bitten ließen. Joe und Dion folgten ihm über den weißgefliesten Boden, an der Bühne vorbei und durch einen dunklen Vorhang. Dahinter lag ein Korridor, der mit dem gleichen Eichenholz ausgekleidet war, aus dem Rumfässer gemacht wurden, und Joe fragte sich, ob sie einfach ein paar Hundert über den Golf geschippert hatten. Tatsächlich mussten es deutlich mehr gewesen sein, da das Büro ebenso vertäfelt war.
Kühl war es hier. Schwarzer Steinfußboden, von der Decke hingen schwere Ventilatoren, die sich knarrend unter den Querbalken drehten. Durch die geöffneten Lamellen der honigfarbenen Jalousien sah man den Abendhimmel; von draußen drang das unablässige Summen der Libellen herein.
Esteban Suarez war ein schmaler Mann mit hellem Teint, der an die Farbe dünnen Tees erinnerte. Er hatte die blassen gelben Augen einer Katze, und sein mit Pomade nach hinten gekämmtes Haar war so dunkel wie der Rum, der sich in der Flasche auf seinem Kaffeetisch befand. Er trug einen Abendanzug und eine schwarze Seidenkrawatte, begrüßte sie mit breitem Lächeln und festem Handschlag, ehe er sie bat, in zwei Lehnsesseln Platz zu nehmen. Auf dem kupfernen Tisch standen vier Tässchen mit kubanischem Kaffee, vier Wassergläser und die Flasche Suarez Reserve Rum, die Joe bereits ins Auge gefallen war.
Estebans Schwester Ivelia erhob sich und streckte die Hand aus. Joe verbeugte sich und hauchte einen Handkuss über ihre Knöchel. Sie war deutlich älter als ihr Bruder; dunkle Haut spannte sich über einem langen Kinn und ausgeprägten Wangenknochen. Ihre Brauen waren so dick wie Seidenwürmer, und die großen Augen wölbten sich vor, als sei ihr Schädel ein Gefängnis, dem sie vergeblich zu entkommen versuchten.
»Wie war Ihr Essen?«, fragte Esteban, als sie sich gesetzt hatten.
»Ausgezeichnet«, sagte Joe. »Vielen Dank.«
Esteban schenkte ihnen ein und erhob sein Glas. »Auf eine gedeihliche Zusammenarbeit.«
Sie tranken. Joe war verblüfft, wie weich und aromatisch der Rum schmeckte. So bekam man das also hin, wenn die Maische länger als eine Woche gären konnte und einem für die Destillierung mehr als eine Stunde zur Verfügung stand. Wahnsinn.
»Wirklich erstklassig. Außergewöhnlich sogar.«
»Fünfzehn Jahre gereift«, sagte Esteban. »Die Ansicht der Spanier, dass weißer Rum der bessere sei, habe
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