In der Nacht (German Edition)
Autos verließen das Gelände, fuhren den schlammigen Pfad in Richtung der Zigarrenfabrik zurück.
»Mein Vater ist gestorben«, sagte Joe schließlich. »Emma ist tot. Dein Bruder ebenfalls, und meine eigenen Brüder sehe ich nur noch alle Jubeljahre. Verdammt, D., außer dir gibt’s niemanden mehr in meinem Leben. Was, zum Teufel, wird aus mir, wenn ich dich auch noch verliere?«
Dion sah ihn an; die Tränen kullerten wie Perlen über seine feisten Wangen.
»Du hast mich also nicht der Kohle wegen verpfiffen«, sagte Joe. »Warum dann?«
»Weil du uns alle geradewegs unter die Erde gebracht hättest.« Dion atmete schwer. »Die Kleine hat dir den Verstand geraubt. Du warst einfach nicht mehr du selbst. So wie bei dem Bankraub. Du hättest uns einfach immer weiter in die Scheiße geritten. Und dabei wäre Paolo als Erster draufgegangen. Er war einfach ein bisschen langsam im Kopf, Joe, nicht so wie wir. Und da habe ich mir gedacht, ich, na ja, ich…« Er rang nach Luft. »Ich habe gedacht, ich ziehe uns mal für eine Weile aus dem Verkehr. Das war der Deal. Albert kannte einen Richter, und wir wären alle bloß für ein Jahr eingefahren, schließlich hatten wir den Überfall ja ohne Waffengewalt durchgezogen. Ein Jahr, genug Zeit für Alberts Mädchen, dich zu vergessen – und vielleicht wärst du am Ende ja auch über sie hinweggekommen.«
»Heiliger Strohsack«, sagte Joe. »Und all das nur, weil ich mich in Alberts Geliebte verknallt habe?«
»Ihr wart beide verrückt nach ihr. Es war dir nicht bewusst, aber nachdem du sie kennengelernt hattest, warst du völlig von der Rolle. Und ich werd’s nie kapieren. Solche Puppen gibt’s doch wie Sand am Meer.«
»Nein«, sagte Joe. »Das ist nicht wahr.«
»Ach ja? Was hatte sie denn, was ich nicht sehen konnte?«
Joe kippte den Rest seines Rums. »Bevor sie mir über den Weg gelaufen ist, habe ich’s nicht bemerkt. Aber da war ein Loch in meinem Herzen, ein Loch wie eine Schusswunde.« Er tippte sich an die Brust. »Sie hat mir mein Herz zurückgegeben. Aber jetzt ist sie tot, und die Wunde in meiner Brust ist wieder da und reißt immer weiter auf. Und ich wünsche mir die ganze Zeit, dass sie von den Toten zurückkehrt und sie endlich wieder schließt.«
Dion musterte ihn eingehend, während die Tränen auf seinem Gesicht trockneten. »Wenn du mich fragst, Joe«, sagte er schließlich, »war sie dein wunder Punkt.«
Als Joe ins Hotel zurückkehrte, kam der Rezeptionist hinter dem Empfang hervor und überreichte ihm eine Handvoll Mitteilungen. Maso hatte mehrmals angerufen.
»Ist Ihre Vermittlung rund um die Uhr besetzt?«, fragte Joe.
»Selbstverständlich, Sir.«
In seinem Zimmer angekommen, rief er bei der Telefonzentrale an und ließ sich verbinden. Es klingelte im Bostoner Norden, und dann hob Maso auch schon ab. Joe steckte sich eine Zigarette an und berichtete, was im Lauf des langen Tages geschehen war.
»Ein Schiff?«, sagte Maso. »Die wollen, dass ihr ein Schiff überfallt?«
»Ja«, sagte Joe. »Ein Kriegsschiff.«
»Und die andere Sache? Hast du deine Antwort bekommen?«
»Ja.«
»Und?«
»Es war nicht Dion.« Joe zog sein Hemd aus und ließ es zu Boden fallen. »Sein Bruder hat mich verpfiffen.«
14
Boom
Der Circulo Cubano war der neueste Club dieser Art in Ybor. Den ersten, das Centro Español, hatten die Spanier in den 1890er Jahren in der Seventh Avenue gebaut. Um die Jahrhundertwende hatte sich eine Gruppe von Nordspaniern abgespalten und das Centro Asturiano an der Ecke Ninth und Nebraska gegründet.
Der Italian Club befand sich ebenfalls in der Seventh Avenue, wenige Häuserblocks vom Centro Español entfernt und damit genauso in bester Lage von Ybor. Da die Kubaner auf der sozialen Leiter ganz unten standen, hatten sie sich mit einer weit weniger schicken Adresse zufriedengeben müssen. Das Circulo Cubano lag an der Ecke Ninth Avenue und Fourteenth Street. Gegenüber befanden sich die Läden einer durchaus achtbaren Näherin und eines ebenso respektablen Apothekers, doch gleich nebenan betrieb Silvana Padilla ihren Puff, der nicht von Geschäftsleuten, sondern von den Arbeitern aus den umliegenden Zigarrenfabriken frequentiert wurde, weshalb es regelmäßig zu Messerstechereien kam und die Nutten verwahrlost und häufig krank waren.
Als Dion und Joe am Bordstein hielten, kam gerade eine von ihnen aus einer angrenzenden Gasse. Während sie vorbeiging, versuchte sie ihr völlig zerknittertes Kleid glattzustreichen; sie
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