In der Nacht (German Edition)
wirkte verbraucht, uralt und ganz so, als bräuchte sie schnellstens einen Drink. Joe schätzte sie auf etwa achtzehn. Der Bursche, der hinter ihr aus der Gasse kam, trug einen Anzug und einen modischen weißen Strohhut. Vor sich hin pfeifend, marschierte er in die andere Richtung, und urplötzlich verspürte Joe den absurden Drang, kurzerhand auszusteigen und den Schädel des Mistkerls mit voller Wucht gegen die nächste Backsteinfassade zu schlagen – so lange, bis ihm das Blut aus den Ohren lief.
Joe reckte das Kinn in Richtung des Bordells. »Gehört uns der Laden?«
»Wir sind beteiligt.«
»Dann sagt unsere Beteiligung, dass die Mädchen nicht auf den Straßenstrich gehen.«
Dion warf ihm einen Blick zu, als wolle er sichergehen, dass Joe es ernst meinte. »Okay. Ich kümmere mich drum, Pater Joe. Können wir uns jetzt vielleicht wieder der Tagesordnung zuwenden?«
»Ich bin voll da.« Joe sah in den Rückspiegel, richtete seine Krawatte und stieg aus. Um acht Uhr morgens war der Bürgersteig bereits so heiß, dass ihm die Fußsohlen brannten, obwohl er erstklassig gearbeitete Schuhe trug. Die Hitze lähmte seine Gedanken, und gerade jetzt war er auf seinen Scharfsinn angewiesen. Jede Menge anderer Typen waren härter als er, mutiger und kundiger im Umgang mit Waffen, doch in Sachen Cleverness und Köpfchen konnte er es mit jedem aufnehmen. Trotzdem wäre es schön gewesen, wenn jemand die verdammte Hitze abgedreht hätte.
Also, Junge, konzentriere dich. Du hast ein Problem, das du lösen musst: Wie willst du die Marine der Vereinigten Staaten um sechzig Kisten Waffen erleichtern, ohne dabei den Löffel abzugeben oder als Krüppel zu enden?
Als sie die Treppe zum Eingang des Circulo Cubano hinaufstiegen, trat eine Frau aus der Tür, um sie zu begrüßen.
Tatsächlich hatte Joe eine Idee gehabt, wie er die Waffen in seinen Besitz bringen konnte, doch dieser Geistesblitz war passé, als ihm plötzlich dämmerte, wo ihm die Frau schon einmal begegnet war. Es war die Schöne, die er tags zuvor auf dem Bahnsteig gesehen hatte, mit der kupferfarbenen Haut und dem kohlrabenschwarzen Haar – schwärzer als alles, was Joe je erblickt hatte, außer vielleicht ihren Augen, die genauso dunkel waren und sich geradewegs auf ihn richteten, während er die letzten Stufen nahm.
»Señor Coughlin?«
Er schüttelte ihr die Hand. »Sehr erfreut.«
»Graciela Corrales.« Sofort entzog sie ihm ihre Hand wieder. »Sie haben sich verspätet.«
Sie ging ihnen durch einen schwarzweiß gefliesten Vorraum zu einer Treppe aus weißem Marmor voraus. Hier drin war es um einiges kühler, und die hohen Decken, die mit dunklem Holz vertäfelten Wände sowie all der Marmor würden die Hitze sicher noch ein paar Stunden in Schach halten.
»Sie sind aus Boston, richtig?«, fragte Graciela Corrales, ohne sich nach Joe und Dion umzudrehen.
»Ja«, sagte Joe.
»Glotzen alle Bostoner Männer auf Bahnsteigen wildfremden Frauen hinterher?«
»Nicht immer, aber immer öfter.«
Sie warf einen Blick über die Schulter. »Eine tolle Kinderstube haben Sie.«
»Also, ich komme ursprünglich aus Italien«, sagte Dion.
»Da ist Anstand ja wohl auch ein Fremdwort.« Sie führte Dion und Joe durch einen Ballsaal, dessen Wände mit Fotos gepflastert waren, alles Aufnahmen aus ebendiesem Raum. Einige der Bilder waren gestellt, andere fingen die Atmosphäre der Tanzabende perfekt ein, fliegende Arme, zuckende Hüften, wirbelnde Röcke. Sie gingen zügig, doch Joe glaubte, Graciela auf einem der Fotos erkannt zu haben. Ganz sicher war er allerdings nicht, da die Frau auf dem Bild lachte und ihr Haar offen trug, und er konnte sich Graciela Corrales beim besten Willen nicht mit offenen Haaren vorstellen.
An den Ballsaal schloss sich ein Billardsalon an – allmählich dämmerte es Joe, dass manche Kubaner offenbar ein recht angenehmes Leben führten –, und hinter dem Billardsalon lag eine Bibliothek mit schweren weißen Vorhängen und vier Holzstühlen. Dort erwartete sie ein Mann mit breitem Grinsen und festem Händedruck.
Esteban. Er begrüßte sie, als hätten sie sich noch nie gesehen.
»Esteban Suarez, Gentlemen. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Nehmen Sie doch Platz.«
Sie setzten sich.
»Gibt’s plötzlich zwei von Ihnen?«, fragte Dion.
»Pardon?«
»Wir haben gestern Abend noch mit Ihnen gesprochen. Und jetzt tun Sie so, als wären wir völlig Fremde.«
»Gestern Abend haben Sie den Besitzer des Vedado Tropicale
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