In der Nacht (German Edition)
kennengelernt. Und heute Morgen lernen Sie den Protokollführer des Circulo Cubano kennen.« Er lächelte wie ein Lehrer, der zwei Schüler aufzumuntern versucht, die sowieso durchfallen würden. »Wie auch immer«, sagte er. »Danke für Ihre Unterstützung.«
Joe und Dion nickten, sagten aber nichts.
»Ich habe dreißig Männer«, sagte Esteban. »Ich schätze aber, dass ich noch dreißig weitere benötige. Wie viele Leute können Sie –«
»Gar keine«, sagte Joe. »Von meiner Seite gibt es keinerlei Zusagen.«
»Nein?« Graciela sah Esteban an. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«
»Ich würde gern erst mal hören, wie Sie sich das Ganze vorstellen«, sagte Joe. »Ob wir bei der Sache mitmachen, wird sich dann weisen.«
Graciela nahm neben Esteban Platz. »Tun Sie nicht so, als hätten Sie irgendeine Wahl. Sie beide sind Gangster und auf etwas angewiesen, das Ihnen nur eine einzige Quelle liefern kann. Wenn Sie sich weigern, sitzen Sie auf dem Trockenen, so einfach ist das.«
»In dem Fall«, erwiderte Joe, »gibt es Krieg. Und den gewinnen wir, weil wir zahlenmäßig schlicht überlegen sind. Ich habe mir das mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Ich soll mein Leben bei einem Anschlag auf ein amerikanisches Kriegsschiff riskieren? Da nehme ich’s doch lieber mit ein paar Dutzend Kubanern im Straßenkampf auf. In dem Fall weiß ich wenigstens, wofür ich kämpfe.«
»Für Ihren Profit«, sagte Graciela.
»Irgendwie muss man ja seine Brötchen verdienen«, sagte Joe.
»Als Krimineller.«
»Was machen Sie denn beruflich?« Er beugte sich vor und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Oder vertreiben Sie sich die Zeit damit, hier Ihre Orientteppiche zu zählen?«
»Ich drehe Zigarren, Mr. Coughlin. Ich schufte mir jeden Tag von morgens zehn bis abends um acht bei La Trocha den Rücken krumm. Als Sie mich gestern auf dem Bahnsteig angeglotzt haben –«
»Ich habe Sie nicht angeglotzt .«
»…war das mein erster freier Tag seit zwei Wochen. Und wenn ich nicht dort arbeite, bin ich hier ehrenamtlich tätig.« Ein bitteres Lächeln spielte um ihre Lippen. »Lassen Sie sich von Äußerlichkeiten nicht täuschen.«
Was ihr Äußeres betraf, so war ihr Kleid noch fadenscheiniger als jenes, in dem er sie am Vortag gesehen hatte – ein Baumwollkleid mit Volants und einer Zigeunerinnenschärpe, das mindestens ein, wenn nicht schon zwei Jahre aus der Mode war, so oft getragen und gewaschen, dass sich nicht sagen ließ, ob es ursprünglich weiß oder hellbraun gewesen war.
»Der Circulo Cubano wird durch Spenden finanziert«, erklärte Esteban. »Wenn Kubaner freitagabends ausgehen, wollen sie sich nach allen Regeln der Kunst aufbrezeln und richtig einen draufmachen, so als wären sie wieder drüben in Havanna – mit Stil, Schwung und Eleganz, verstehen Sie?« Er schnippte mit den Fingern. »Innerhalb dieser Wände müssen wir uns von niemandem als Bohnenfresser oder Schmierlappen bezeichnen lassen. Hier können wir unsere Sprache sprechen, unsere Lieder singen und unsere Gedichte vortragen.«
»Freut mich für Sie. Aber Gedichte hin oder her, warum sollte ich Ihnen den Gefallen tun, einen Marinefrachter zu überfallen, statt einfach Ihre Organisation plattzumachen?«
Graciela öffnete den Mund. In ihren Augen flackerte es, doch Esteban legte ihr eine Hand aufs Knie. »Sie haben recht – wahrscheinlich würden Sie den Krieg gewinnen. Aber was hätten Sie schon davon außer leeren Lagerhäusern? Meine Lieferanten, meine Kontakte in Havanna, all meine Leute in Kuba – sie würden im Leben nicht mit Ihnen zusammenarbeiten. Und für ein paar verlassene Häuser und ein paar Kisten Rum wollen Sie doch nicht ernstlich die Gans schlachten, die goldene Eier legt.«
Joe erwiderte sein Lächeln. Allmählich begannen sie sich zu verstehen. Vielleicht würden sie sich irgendwann sogar respektieren.
Joe deutete mit dem Daumen hinter sich. »Haben Sie die Fotos in dem Ballsaal geknipst?«
»Die meisten davon.«
»Gibt’s irgendwas, das Sie nicht machen, Esteban?«
Esteban nahm seine Hand von Gracielas Knie und lehnte sich zurück. »Was wissen Sie über kubanische Politik, Mr. Coughlin?«
»So gut wie nichts«, erwiderte Joe. »Und ich bin auch nicht scharf drauf, mehr zu erfahren. Das würde mich bloß von der Arbeit ablenken.«
Esteban kreuzte die Knöchel. »Und über Nicaragua?«
»Dort haben wir vor ein paar Jahren eine Rebellion niedergeschlagen, wenn ich mich recht
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