In der Oase
nicht.«
Den ganzen Abend und bis tief in die Nacht ließ sie sich seine Worte durch den Kopf gehen, hinterfragte sie in der Hoffnung, sie könnte herausfinden, wie krank seine Seele tatsächlich war. Er war körperlich und seelisch erschöpft, das war augenscheinlich, aber rührte seine kranke Seele lediglich von Erschöpfung her, die nachlassen würde, oder wurzelte sie tiefer? Wenn er zusammenbrach, waren sie verloren, es sei denn, Ahmose konnte den Oberbefehl über das Heer übernehmen. Während sie vor ihrem Kosmetiktisch saß und Isis ihr mit kundiger Hand Kohl auf die runzligen Lider pinselte und ihre faltigen Hände mit Henna bemalte, ließ sie den Schmerz zu, der sie überrollte wie eine Welle.
Sie liebte alle Mitglieder ihrer Familie, liebte sie mit hitzigem, besitzergreifendem Stolz, doch Kamose war seit dem Tag ihr Liebling, als sie ihm in das ernste Gesichtchen geblickt und eine Persönlichkeit erkannt hatte, die ihrer glich. Während er heranwuchs, verstärkte sich diese Vertrautheit noch. Zwischen ihnen entstand ein Band aus Ka und Geist, eine oftmals unausgesprochene Übereinstimmung. Er war weit mehr ihr Sohn als Aahoteps, jedenfalls sah sie ihn insgeheim so, aber jetzt fragte sie sich doch, ob Aahotep ihrem mittleren Kind ihre Gelassenheit möglicherweise als Zerbrechlichkeit vererbt hatte, die sich erst unter außergewöhnlicher Belastung zeigte. Es tat weh, sich Kamose mit Schwächen vorzustellen. Das ließ sie an ihrer eigenen Urteilskraft zweifeln. Dagegen musste ein Mittel gefunden werden.
Beim Abendessen an diesem Tag saß Kamose wie gewohnt da; Behek schmiegte sich an seine Beine und hatte die klaren Augen auf das verschlossene Gesicht seines Herrn gerichtet. Tetischeri beobachtete Ahmose beim Essen und Trinken, wie er seine Frau immer wieder küsste und gutmütig mit den Dienern scherzte. Er ist vollkommen ungezwungen, dachte sie. Bislang habe ich nie gemerkt, wie ehrerbietig sie sich ihm nähern und dennoch darauf vertrauen, dass sie nicht zurückgewiesen werden. Kamose fordert Achtung mit einem Hauch Ehrfurcht, und das ist richtig, das gehört sich so. Aber bis jetzt hatte ich nicht gemerkt, dass Kamose keine Zuneigung einflößen kann.
Seufzend hob Tetischeri ihren Weinbecher zum Mund und trank, um die kurze Untreue zu überdecken, die diese Einsicht mit sich brachte. Lasse ich Ahmose diese Last mit mir teilen?, überlegte sie. Was denkt er wirklich hinter diesem klaren, friedlichen Blick? Würde er mich mit einer oberflächlichen Floskel abspeisen oder mich unerwartet mit Einsicht überraschen? Ich schäme mich, weil ich es nicht weiß. Ich habe ihn zu lange für zu leicht befunden, habe mich lieber im Geist an seinem Bruder erfreut. Ach, mein lieber Kamose, ich möchte, dass du stark und lebensfroh bist und all die Tugenden verkörperst, die dir von deinen königlichen Ahnen vererbt worden sind. Ich möchte, dass das stolze Erbe der Taos an dich geht, nicht an Ahmose.
An diesem Abend bat sie um Mohnsaft, damit sie schlafen konnte, doch die Wirkung des Schlafmittels hatte lange vor dem Morgengrauen nachgelassen, sie wurde mit einem Ruck wach, und in ihrem Kopf summten die Gedanken wie ein Schwarm zielloser Bienen. Ergeben verließ sie ihr Lager, öffnete ihren Amun-Schrein und begann zu beten. Erst nach einer geraumen Weile ging ihr auf, dass sie mit ihrem toten Gemahl sprach, nicht mit dem Gott der Doppelfeder.
Fünftes Kapitel
Am Morgen bestieg Tetischeri ihre Sänfte und ließ sich nach Norden, zu Amuns Tempel tragen. Es war ein schöner Tag, er funkelte von flüchtiger Frische, die jedoch vergehen würde, sowie Re stärker schien, daher ließ sie die Vorhänge offen und genoss den Blick. Der Fluss stieg langsam an, seine träge Strömung floss in den kühlen Tiefen, wo die Fische lebten, bereits schneller, doch die Wasseroberfläche kräuselte sich glitzernd, als der Wind über das Wasser fuhr.
Eine Schar nackter Kinder rannte unter entzücktem Gekreisch ins Wasser hinein und wieder heraus. Sie verstummten und verbeugten sich, als sie vorbeigetragen wurde, und sie grüßte sie leutselig mit der Hand und lächelte über ihre ungehemmte Fröhlichkeit. Krieg bedeutet ihnen nichts, dachte sie und beantwortete den Gruß einer Gruppe Frauen und junger Mädchen, die mit Körben voller Wäsche beladen waren. Hier in Waset führen sie ein behütetes Leben. Und dafür ist mein Sohn gestorben. Hier scheint die kosmische Wirklichkeit der Maat vollkommen ausgewogen zu sein.
Sie spürte,
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