In der Schwebe
funken. Das Raumschiff flog sich selbst; Jack war nichts weiter als der hilflose Affe auf dem Pilotensitz.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Herzschlag. Er hatte sich verlangsamt. Jack war jetzt merkwürdig ruhig; bereit, dem Unvermeidlichen ins Auge zu blicken, was immer das sein mochte. Er hörte das Surren und Klicken der Bordsysteme, die sich auf den großen Sprung vorbereiteten. Er stellte sich den wolkenlosen Himmel vor, die Atmosphäre, so dicht wie Wasser, gleich einem Meer aus Luft, das er durchschwimmen musste, um in das kalte, reine Vakuum des Alls zu gelangen.
Wo Emma mit dem Tod rang.
Auf der Zuschauertribüne war eine ominöse Stille eingetreten. Die Countdown-Uhr, deren Bild auf dem Videomonitor zu sehen war, überschritt die »T-minus-60-Sekunden« -Marke und tickte weiter.
Sie ziehen den Start durch,
dachte Casper, und die Panik trieb ihm noch mehr Schweißperlen auf die Stirn. Im Grunde seines Herzens hatte er nicht geglaubt, dass dieser Moment je eintreten würde. Er hatte mit Verzögerungen gerechnet, mit einem Abbruch, sogar mit einem kompletten Rückzieher. Er hatte so viele Enttäuschungen durchlebt, hatte so viel Pech mit diesem verfluchten Vogel gehabt, dass die blanke Angst jetzt wie Galle in ihm hochstieg. Er ließ den Blick über die Gesichter auf der Tribüne schweifen und sah, dass viele Münder die Sekunden leise mitzählten. Aus dem Flüstern wurde allmählich ein rhythmisches Raunen.
»Neunundzwanzig. Achtundzwanzig. Siebenundzwanzig …«
Das Raunen schwoll zu einem allgemeinen Murmeln an, das mit jeder Sekunde lauter wurde.
»Zwölf. Elf. Zehn …«
Caspers Hände zitterten so heftig, dass er sich ans Geländer klammern musste. Er spürte das Pochen seines Pulsschlags in den Fingerspitzen.
»Sieben. Sechs. Fünf …«
Er schloss die Augen. O Gott, was hatten sie getan?
»Drei. Zwei. Eins …«
Die Zuschauermenge hielt wie gebannt gleichzeitig die Luft an. Dann rollte das Donnern der Feststoffraketen über ihn hinweg, und er riss die Augen auf. Er starrte in den Himmel, auf den Feuerschweif, der vom Horizont emporschoss. Gleich würde es passieren. Zuerst der grelle Blitz, dann, mit der Verzögerung der Schallgeschwindigkeit, die Druckwelle der Explosion, die auf ihre Trommelfelle einhämmern würde. So war es bei der
Apogee I
gewesen.
Aber der feurige Streifen zog weiter seine Bahn, bis am tiefblauen Himmel nur noch ein blasses Pünktchen zu erkennen war.
Eine Hand schlug ihm kräftig auf den Rücken. Er zuckte zusammen und drehte sich um. Mark Lucas strahlte ihn an.
»Saubere Arbeit, Mulholland! Was für ein fantastischer Start!«
Casper riskierte noch einen ängstlichen Blick gen Himmel. Immer noch keine Explosion.
»Aber Sie hatten ja wohl nie irgendwelche Zweifel, was?«, meinte Lucas.
Casper schluckte. »Nicht die Spur.«
Die letzte Dosis.
Emma drückte auf den Kolben und leerte den Inhalt der Spritze in ihre Vene. Sie zog die Nadel heraus, drückte einen Wattebausch auf die Einstichstelle und winkelte den Arm an, um ihn festzuklemmen, während sie die Nadel entsorgte. Es kam ihr vor wie eine feierliche Zeremonie, bei der jede Handlung mit Ehrfurcht ausgeführt wird, begleitet von dem sicheren Wissen, dass sie all dies nie wieder spüren würde: den Einstich der Nadel, den Druck des Wattebauschs in ihrer Armbeuge. Wie lange würde diese letzte Dosis HCG sie noch am Leben halten?
Sie drehte sich um und blickte auf den Mäusekäfig, den sie in das russische Modul gebracht hatte, wo es heller war. Das einzige überlebende Weibchen hatte sich zu einem zitternden Knäuel zusammengerollt; es lag im Sterben. Die Wirkung des Hormons war nicht von Dauer. Die Jungen waren am Morgen gestorben.
Und morgen,
dachte Emma,
werde ich das einzige lebende Wesen an Bord der Station sein.
Nein, nicht das Einzige. Sie hatte die Lebensform in ihrem Inneren vergessen. Die Hunderte von Larven, die schon bald aus ihrem Ruhezustand erwachen würden, um zu fressen und zu wachsen.
Sie legte die Hand auf ihren Bauch wie eine Schwangere, die den Fötus in ihrem Leib fühlt. Wie ein echter Fötus würde der Organismus, den sie in sich trug, Teile ihrer DNS enthalten. In diesem Sinne war er ihr biologischer Abkömmling, und er besaß das genetische Gedächtnis jedes Wirts, dessen er sich je bedient hatte. Kenichi Hirai. Nikolai Rudenko. Diana Estes. Und jetzt Emma.
Sie war die Letzte. Es gab keine weiteren Wirte, keine neuen Opfer, denn es gab keine Retter. Die
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