In der Schwebe
NASA-Meteorologe. »Ich denke, ich sollte vielleicht erwähnen, dass westlich von Guadeloupe eine Gewitterfront im Entstehen ist, die sich sehr langsam in westlicher Richtung bewegt. Sie wird den Start nicht beeinträchtigen. Aber je nachdem, welchen Weg sie nimmt, könnte sie ungefähr in einer Woche in Kennedy für Probleme sorgen.«
»Danke für die Warnung.« Der stellvertretende Direktor blickte sich im Raum um und sah, dass es keine weiteren Fragen gab. »Dann ist der Start weiterhin klar für fünf Uhr Mittlerer Sommerzeit. Wir sehen uns dort.«
10
Punta Arena, Mexiko
Das Cortez-Meer schimmerte wie getriebenes Silber im schwindenden Tageslicht. Von ihrem Tisch auf der Terrasse des Café Las Tres Vírgenes aus konnte Helen Koenig die Fischerboote sehen, die nach Punta Colorado zurückkehrten. Dies war ihre liebste Tageszeit, wenn die Abendbrise ihre von der Sonne erhitzte Haut kühlte und ihre Muskeln vom Schwimmen am Nachmittag angenehm müde waren. Ein Kellner brachte ihre Margarita, er stellte das Glas vor sie auf den Tisch.
»
Gracias, señor
«, murmelte sie.
Für einen kurzen Moment erwiderte er ihren Blick. Sie sah einen ruhigen, würdevollen Mann mit müden Augen und silbernen Strähnen im Haar, und sie verspürte einen Anflug von Unbehagen. Das schlechte Yankee-Gewissen, dachte sie, während sie beobachtete, wie er zurück zum Tresen ging. Dieses Gefühl befiel sie jedes Mal, wenn sie nach Baja fuhr. Sie nippte an ihrem Drink, blickte auf das Meer hinaus und hörte den wimmernden Trompeten der Mariachi-Band zu, die irgendwo am Strand spielte.
Es war ein guter Tag gewesen, sie hatte ihn fast ganz auf dem Meer verbracht. Am Morgen war sie zunächst mit den Sauerstoffflaschen tauchen gegangen, am Nachmittag dann noch einmal nicht ganz so tief hinunter, und schließlich war sie kurz vor dem Abendessen, als der Sonnenuntergang das Wasser schon vergoldete, noch ein wenig geschwommen. Das Meer war ihr Trost, ihr Refugium. So war es immer gewesen. Anders als die Liebe eines Mannes war das Meer etwas Beständiges, und es enttäuschte sie nie. Immer war es bereit, sie aufzunehmen, sie zu beruhigen und zu trösten, und in schwierigen Zeiten floh sie immer wieder in seine Arme.
Genau deshalb war sie nach Baja gekommen. Um im warmen Wasser zu schwimmen und allein zu sein, für niemand erreichbar. Nicht einmal für Palmer Gabriel.
Der saure Geschmack der Margarita ließ sie das Gesicht verziehen. Sie leerte das Glas und bestellte noch eine. Schon gab ihr der Alkohol das Gefühl zu schweben. Es war doch alles gleich; jetzt war sie frei. Das Projekt war erledigt, abgebrochen. Die Kulturen zerstört. Obwohl Palmer wütend auf sie war, wusste sie, dass sie das Richtige getan hatte. Im Interesse der Sicherheit. Morgen würde sie lange schlafen und heiße Schokolade und
huevos rancheros
zum Frühstück bestellen. Dann würde sie noch einmal ein wenig tauchen gehen, sich noch einmal mit ihrem meergrünen Liebhaber treffen.
Das Lachen einer Frau schreckte sie aus ihren Gedanken. Helen sah zum Tresen hinüber, wo sie ein flirtendes Paar erblickte. Die Frau war schlank und braun, der Mann hatte Muskeln wie Stahlseile. Eine Urlaubsaffäre im Frühstadium. Sie würden wahrscheinlich gemeinsam zu Abend essen und anschließend Händchen haltend am Strand spazieren gehen. Und dann ein Kuss, eine Umarmung, das ganze hormongeladene Ritual der Paarbildung. Helen beobachtete sie mit dem Interesse einer Wissenschaftlerin und zugleich mit dem Neid einer Frau. Sie wusste, dass solche Rituale nichts für sie waren. Sie war neunundvierzig, und man sah es ihr an. Ihre Taille war zu dick, ihr Haar schon mehr als halb ergraut, und ihr Gesicht hatte nichts Bemerkenswertes bis auf ihre intelligenten Augen. Sie war nicht der Typ Frau, der die Blicke sonnengebräunter Adonisse auf sich zog.
Sie trank ihre zweite Margarita aus. Das Gefühl des Schwebens hatte sich inzwischen auf ihren ganzen Körper ausgedehnt, und sie wusste, dass es an der Zeit war, etwas Festes zu sich zu nehmen. Sie schlug die Speisekarte auf. »
Restaurante de Las Tres Virgenes
« stand oben auf der ersten Seite. Die drei Jungfrauen. Wie passend. Sie hätte ebenso gut eine Jungfrau sein können.
Der Kellner kam, um ihre Bestellung aufzunehmen. Sie sah zu ihm auf und hatte ihn gerade gebeten, ihr die gegrillte Dorade zu bringen, als ihr Blick auf den Fernseher über der Bar fiel – auf das Bild des Space Shuttle auf seiner Startrampe.
»Was passiert denn da?«,
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