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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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die Kameras an den Stativen festzuschrauben und auf den Wegabschnitt zu richten, von dem sie gerade gekommen waren. Hoch droben kreiste ein Falke in den letzten Aufwinden des Tages und stieß einen trägen Schrei aus. Ein letzter Sonnenstrahl fiel kurz auf seine Flügel, dann herrschte allumfassende Abenddämmerung.
    »Sie sollten ihre Aufnahme möglichst schnell machen«, sagte Maggie. »Es wird dunkel.«
    »Will noch jemand etwas?« fragte Deedee.
    Eine blasse Bewegung war im Halbdunkel unter den Fichten zu sehen, dann tauchte ein Mann auf, der unter einer langen Last gebeugt ging und sich langsam aber sicher die letzten paar Meter des Wegs bis zur Lichtung heraufbewegte. Dieser Mann schien ebenfalls im Collegealter zu sein, wirkte aber älter als die beiden, die gebückt hinter ihren Kameras standen: er trug ein schweißnasses blaues Baumwollhemd, zerrissene Khakishorts und feste Wanderstiefel. Auf dem Rücken trug er einen zu groß geratenen blauen Bergsteigerrucksack mit Nylonnetz, an dem eine lange, zylindrische, in rotes und gelbes Segeltuch gewickelte Last befestigt war. Die Stangen mußten viereinhalb Meter lang sein, sie ragten fast zwei Meter über die gebeugten Schultern des Mannes hinaus und schleiften die gleiche Entfernung hinter ihm im Staub. Das braune Haar des Mannes war lang und in der Mitte gescheitelt, es hing in feuchten Strähnen herunter und lockte sich an den vorstehenden Wangenknochen. Als er näher kam, bemerkte Baedecker die tiefliegenden Augen, die schmale Nase und den kurzen Bart. Haltung und eindeutige Erschöpfung des Mannes bestärkten Baedecker in seinem Eindruck, daß er hier einen Schauspieler vor sich sah, der den letzten Gang Christi auf den Berg Golgatha darstellte.
    »Großartig, Lude, wir bekommen es!« rief der rothaarige Junge. »Komm schon, Maria, bevor das Licht weg ist! Beeilung!« Eine junge Frau kam von dem dunklen Pfad. Sie hatte kurzes, dunkles Haar, ein langes, dünnes Gesicht und trug Shorts und ein Oberteil, das ihr ein paar Nummern zu groß zu sein schien. Auch sie hatte einen schweren Rucksack aufgeschnallt. Sie kam rasch näher, während der bärtige Bergsteiger auf der Wiese auf ein Knie sank, die Schultergurte löste und die in Tuch gewickelten Stangen auf den Boden sinken ließ. Baedecker hörte das Klirren von Metall auf Metall. Einen Augenblick wirkte der Mann zu erschöpft, sich aufzurichten oder hinzusetzen; er blieb auf dem Knie, hielt den Kopf gesenkt, so daß das Haar sein Gesicht verbarg, und ließ einen Arm auf dem anderen Knie liegen. Dann kam das Mädchen namens Maria nach vorn und berührte zärtlich seinen Hinterkopf.
    »Toll, wir haben es!« rief der schwergewichtige Junge.
    »Kommt schon, wir müssen die ganze Scheiße hier auf bauen.« Die beiden Jungs und das Mädchen machten sich daran, das Lager zu errichten, während der Bärtige knien blieb.
    »Wie seltsam«, sagte Maggie.
    »Eine Art Dokumentarfilm«, sagte Gavin.
    »Ich frage mich, worüber«, sagte Maggie.
    »Marshmallows«, sagte Deedee. »Schnitzen wir ein paar Zweige, um Marshmallows zu rösten, bevor es zu dunkel wird, welche zu finden.« Tom Jr. verdrehte die Augen und wandte sein Gesicht zu dem dunklen Wald.
    »Ich helfe mit«, sagte Baedecker, stand auf und streckte seine verkrampften Muskeln. Über dem Kamm im Osten waren einige schwache Sterne zu sehen. Jetzt wurde es rasch kälter. Auf der anderen Seite der Wiese hatten die beiden Jungs und die junge Frau zwei kleine Zelte aufgebaut und sammelten hastig Feuerholz für die Dunkelheit. Etwas weiter draußen, im Halbdunkel kaum zu erkennen, saß derjenige namens Lude mit überkreuzten Beinen im hohen Gras.
     
    Baedecker war an einem Mittwoch um halb sechs Uhr nachmittags in Denver eingetroffen. Er wußte, daß Tom Gavin sein Büro in Denver hatte, aber in Boulder wohnte, zwanzig Meilen näher an den Vorgebirgen. Baedecker fand eine Tankstelle und rief bei Tom zu Hause an. Deedee nahm ab, freute sich, daß er angekommen war, wollte nichts davon hören, daß Baedecker in einem Hotel blieb, und machte den Vorschlag, er solle Tom aufsuchen, bevor dieser Feierabend machte. Sie nannte ihm Telefonnummer und Adresse.
    Gavins biblische Organisation hieß ›Apogee‹ Apogäum -, die Zentrale befand sich im zweiten Stock eines dreistöckigen Bankgebäudes in der Hast Colefax Avenue, mehrere Meilen von der Innenstadt von Denver entfernt. Baedecker stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab und folgte Plakaten und Schildern mit Aufschriften

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