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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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erleichtertem Tonfall. Plötzlich hustete er zweimal in die Hand. Gelbe Kleenfetzen flatterten in die Luft wie Federn.
    Baedecker machte das Auge wieder zu.
    »Es ist wirklich schön, dich hier zu haben, Richard«, sagte Dave Muldorff.
    Baedecker lächelte ohne die Augen aufzuschlagen. »Es ist schön, hier zu sein, Dave.«
     
    Baedecker hatte in Denver sein Auto verkauft und war mit Maggie Brown mit dem Zug nach Westen gefahren. Er wußte nicht, ob das eine kluge Entscheidung war er vermutete das Gegenteil -, aber dieses Mal hatte er einfach versucht, eine Handlung ohne Analyse auszuführen.
    Der ›California Zephyr‹ von Amtrak verließ Denver um neun Uhr, er und Maggie frühstückten im Speisewagen, während der Zug unter der Kontinentalscheide durch den ersten von fünfundfünfzig Tunneln fuhr, die sie in Colorado erwarteten. Baedecker betrachtete Pappteller, Papierservietten und das Tischtuch aus Papier.
    »Als ich das letzte Mal mit dem Zug durch Amerika gefahren bin, gab es noch echtes Leinen auf den Tischen, und das Essen wurde nicht in der Mikrowelle warm gemacht«, sagte er zu Maggie.
     
    Maggie lächelte. »Wann war das Richard, während des Zweiten Weltkriegs?« Sie meinte es als Witz als nicht so subtile Anspielung darauf, daß er ständig den Altersunterschied zwischen ihnen erwähnte -, aber Baedecker blinzelte betroffen, als ihm klar wurde, daß es tatsächlich während des Krieges gewesen war. Seine Mutter war mit ihm und seiner Schwester Anne von Peoria nach Chicago gefahren, um die Ferien über Verwandte zu besuchen. Baedecker erinnerte sich an die Sitze, die rückwärts standen, den gedampften Tonfall der Schaffner und Kellner im Speisewagen und den seltsamen Kitzel, den er empfand, als er durch das Fenster Straßenlaternen und orangefarben erleuchtete Fenster in der Nacht betrachtete. Chicago hatte aus Lichterkonstellationen und reihenweise Apartmentfenstern bestanden, die in der Nacht vorbeihuschten, während der Zug auf hoch gelegenen Schienen durch die Southside fuhr. Obwohl er in Chicago geboren worden war, hatte der Anblick den zehnjährigen Richard Baedecker desorientiert, ihm ein nicht unangenehmes Gefühl verschafft, als hätte er das Zentrum der Dinge verloren. Achtundzwanzig Jahre nach der Reise nach Chicago sollte er dasselbe Gefühl der Zentrumslosigkeit verspüren, als die Apollo-Kapsel die Funkverbindung mit der Erde verlor und die rauhe Mondoberfläche die ganze Sicht ausfüllte. Baedecker erinnerte sich, wie er am kleinen Bullauge des Kommandomoduls lehnte und mit der Hand Beschlag wegwischte, so wie viereinhalb Jahrzehnte früher, als der Zug mit seiner Mutter, seiner Schwester und ihm an Bord in den Bahnhof Union Station eingefahren war.
    »Sind Sie fertig?« Die Stimme des Amtrak-Kellners grenzte ans Unverschämte.
    »Fertig«, sagte Maggie und trank den letzten Schluck Kaffee.
    »Gut«, sagte der Kellner. Er legte das rote Tischtuch von gegenüberliegenden Ecken zusammen, raffte Pappteller, Plastikbesteck und Plastikbecher damit zusammen und warf das ganze Bündel in einen Abfalleimer.
     
    »Fortschritt«, sagte Baedecker, als sie durch den schwankenden Gang zurückgingen.
    »Was?« fragte Maggie.
    »Nichts«, sagte Baedecker.
    Später in der Nacht, als Maggie an seiner Schulter schlief, sah Baedecker zum Fenster hinaus, während sie in einer entlegenen Ecke des Rangierbahnhofs von Salt Lake City die Lokomotiven wechselten. Unter einer stillgelegten Überführung, die von hohem Unkraut umgeben war, das die Herbstkälte spröde machte, saßen Hobos um ein Feuer herum. Werden sie immer noch Hobos genannt? fragte sich Baedecker.
    Am Morgen erwachten er und Maggie kurz vor der Dämmerung, als das erste falsche Licht auf die rosa Felsen des Wüstencanyons fiel, durch den der Zug raste. Baedecker wußte gleich beim Aufwachen, daß die Reise nicht gut verlaufen würde, daß das, was er und Maggie in Indien geteilt und in den Bergen von Colorado wiederentdeckt hatten, die Realität der nächsten paar Tage nicht überstehen würde.
    Keiner sagte etwas, während die Sonne aufging. Der Zug brauste weiter nach Westen, Felsen und Prärien flogen vorbei, der Morgen war in eine vergängliche und zerbrechliche Stille gehüllt.
     
    Dave und Diane Muldorff wohnten in einem vornehmen Vorort der Southside von Salem. Von ihrer Veranda aus hatte man Aussicht auf einen bewaldeten Bach, und Baedecker lauschte dem Wasser, das über unsichtbare Steine plätscherte, während er sein Steak mit

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