Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
getragen hatte.
    »Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte Gavin. Baedecker zuckte die Achseln. Lude zog die Beingurte
    aus Velcro fest und zeigte ihm, wie er das Gewicht verlagern mußte, damit er bäuchlings in Flughaltung kam. Baedecker stand auf und nahm das Gewicht des Gleiters am Apex des Metalldreiecks auf die Schultern, während Lude den Kiel parallel zum Boden hielt.
    »Du hast den Verstand verloren«, sagte Gavin. »Laß den Unsinn, Dick. Du hast nicht einmal einen Helm. Wir müssen einen Rettungstrupp der Bergwacht kommen lassen, um deinen Körper von der Felswand abzukratzen.« Baedecker nickte. Der Wind wehte sanft mit nicht einmal zehn Stundenmeilen von Westen. Er machte zwei Schritte auf den Abgrund zu. Der Drachen wippte leicht und ließ sich auf seinen Schultern nieder. Er konnte das Spiel von Wind und Schwerkraft in den straffen Tauen und dem gebauschten Dacron spüren.
    »Das ist lächerlich, Dick. Du benimmst dich wie ein Halbstarker.«
    »Halten Sie die Nase oben, Mann«, sagte Lude. »Verlagern Sie das Körpergewicht in die Schräge.«
    Baedecker näherte sich dem Abgrund bis auf acht Schritte. Es gab keinen Hang. Die Felswand fiel lotrecht dreißig Meter oder mehr bis zu zerklüfteten Terrassen ab, dann weiter senkrecht nach unten. Baedecker konnte Maggies rotes Hemd eine Meile weiter unten sehen, ein kleiner Farbtupfer im Braun und Weiß der felsübersäten Tundra.
    »Dick!« sagte Gavin. Es war ein schneidender Befehl.
    »Fangen Sie keine drei-sechziger an bevor Sie nicht mindestens dreihundert Meter Luft unter sich haben«, sagte Lude. »Und weg von dem Berg, Mann.«
    »Du bist ein verdammter Narr«, sagte Gavin tonlos. Es war eine endgültige Meinung. Ein Urteil.
    Baedecker schüttelte den Kopf. »Ein Feiernder«, sagte er, lief fünf Schritte und sprang.
     

Vierter Teil
Lonerock
     
    Die Beerdigung findet am Neujahrstag statt, die Wolken hängen tief, und die kurze Fahrzeugprozession hat die viereinhalbstündige Fahrt von Salem, Oregon, in verschiedenen kurzen Schneeschauern zurückgelegt. Obwohl es immer noch Morgen ist, scheint das Licht müde und resigniert zu sein, absorbiert von Bäumen und Steinen und dem Holz der Farmhäuser, bis nur noch die grauen Umrisse der Wirklichkeit verbleiben. Es ist sehr kalt. Die weißen Abgase des wartenden Leichenwagens wehen über die sechs Männer dahin, die sich bemühen, den Sarg aus dem Wagen zu heben und über eine knirschende Fläche gefrorenen Grases zu tragen.
    Baedecker spürt die Kälte des Bronzegriffs durch den Handschuh und wundert sich, wie leicht der Leichnam seines Freundes zu sein scheint. Mit Hilfe der anderen fünf Männer ist es überhaupt kein Problem, den massiven Sarg zu tragen. Baedecker muß an ein Kinderspiel denken, bei dem eine Gruppe einen bäuchlings liegenden Freiwilligen schweben läßt, wobei jede Person nur einen einzigen Finger unter den nervös verkrampften, wartenden Leib schiebt. Jedesmal wurde das liegende Kind, von einem kichernden Chor begleitet, hoch über den Boden gehoben. Für Baedecker hatte es als Jungen stets einen leichten Anfall von Angst mit sich gebracht, jemanden auf diese Weise hochzuheben, als würde man der Schwerkraft trotzen, als würden Gesetze übertreten, die man nicht übertreten durfte. Aber am Ende wurde das zappelnde, kichernde Kind stets heruntergelassen, behutsam oder abrupt, und das Gewicht stellte sich wieder ein; letztlich gehorchte man der Schwerkraft doch.
    Baedecker zählt achtundzwanzig Trauergäste am Grab.
     
    Er weiß, es hätten viel mehr sein können. Man hatte davon gesprochen, daß der Vizepräsident erscheinen würde, aber dem Angebot haftete angesichts des Wahljahrs ein unangenehmer Beigeschmack an, daher hatte Diane dem rasch ein Ende bereitet. Baedecker schaut nach links und sieht den Turm der Methodistenkirche von Lonerock zwei Meilen tiefer im Tal. Das trübe Licht wabert mit jeder vorbeiziehenden Wolkenschicht, und Baedecker ist fasziniert vom Eindruck wechselnder Substanz an dem fernen Turm. Vor der Beerdigung heute morgen war die Kirche jahrelang geschlossen gewesen, und als Baedekker vor der Ankunft der anderen Trauergäste Anfeuerholz in den Metallofen geworfen hatte, war ihm das Datum der alten Zeitung aufgefallen: 21. Oktober 1971. Da hatte Baedecker einen Moment innegehalten und sich überlegt, wo er und Dave am 21. Oktober dieses Jahres gewesen sein konnten. Keine drei Monate vor dem Flug. Wahrscheinlich in Houston oder am Cape. Baedecker kann sich nicht

Weitere Kostenlose Bücher