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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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siebzehn Uhr, aber man sah deutlich, daß das Tal schon einige Zeit im Schatten lag.
    Dave jagte den Hubschrauber in eine halbkreisförmige Kurve, bei der die Rotorblätter mehrere Sekunden fast lotrecht zum Boden standen. Sie flogen über eine Hauptstraße, die aus fünf leerstehenden Häusern und einer verrosteten Zapfsäule zu bestehen schien. Sie kippten nach links und passierten eine weiße Kirche, deren Turm vor einer zerklüfteten Felsnadel jenseits des Kirchhofs zur Zwergenhaftigkeit schrumpfte.
    Baedeckers Bordfunk klickte. »Willkommen in Lonerock«, sagte Dave.
     
    Als Baedecker ins Haus von Dave und Diane in Salem zurückkehrt, haben sich die meisten Trauergäste verabschiedet. Der Schnee, den er am Mount St. Helens gesehen hat, fällt jetzt als leichter Nieselregen.
    Tucker Wilson begrüßt Baedecker an der Tür. Vor heute morgen hat er Tucker seit dem Tag des ChallengerUnglücks vor zwei Jahren nicht mehr gesehen. Tucker, ein Pilot der Air Force und Ersatzmann des ApolloTeams, hatte schlußendlich ein Jahr, bevor Baedecker die NASA verlassen hatte, eine Skylab-Mission befehligt. Tucker ist ein kleinwüchsiger Mann mit der Statur eines Ringers, rosigem Gesicht und wenigen sandfarbenen Haarbüscheln über den Ohren. Im Gegensatz zu vielen Testpiloten, die einen südlichen oder neutralen Akzent sprechen, kennzeichnen die unbetonten Vokale Neu Englands Tuckers Sprechweise. »Di ist mit Katie und ihrer Schwester oben«, sagt Tucker. »Komm auf einen Drink mit in Daves Salon.«
    Baedecker folgt ihm. Das Zimmer mit seinen Bücherregalen, Ledersesseln und dem alten Sekretär ist mehr Arbeitszimmer als Salon. Baedecker sinkt in einen Sessel und sieht sich um, während Tucker den Scotch einschenkt. Auf den Regalen steht eine kunterbunte Mischung von wertvollen Erstausgaben, populären gebundenen Büchern, Taschenbüchern und Stapeln von Zeitschriften und Papieren. An einem freien Abschnitt der Wand beim Fenster hängen ein rundes Dutzend Fotografien: Baedecker erkennt sich selbst auf einer, wie er lächelnd neben Tom Gavin steht, während Richard Nixon steif die Hand einem grinsenden Dave entgegenstreckt.
    »Wasser oder Eis?« fragt Tucker.
    »Nein«, sagt Baedecker. »Pur, bitte.«
    Tucker gibt Baedecker das Glas und setzt sich auf den antiken Drehstuhl beim Schreibtisch. Er scheint sich dort nicht wohl zu fühlen, nimmt ein maschinengeschriebenes Blatt vom Schreibtisch, legt es ab, trinkt einen großen Schluck.
    »Probleme mit dem Flug heute morgen?« fragt Baedekker. Tucker war bei der Formation »Mann vermißt« mitgeflogen.
    »Nn-nnn«, sagt Tucker. »Aber es hätte welche geben können, wenn die Wolken noch tiefer gewesen wären. Wir haben auch so schon die Hühner auf den Höfen geröstet.«
    Baedecker nickt und kostet den Scotch. »Stehst du nicht in der Schlange für einen Flug, wenn das ShuttleProgramm wiederaufgenommen wird?« fragt er Tucker.
    »Jawoll. Nächsten November, wenn alles so läuft, wie es vorgesehen ist. Wir sollen militärische Nutzlast transportieren, daher werden wir auf den ganzen Pressemist von wegen heldenhafte Eroberer vor dem Flug verzichten.«
    Baedecker nickt. Der Scotch ist Glenlivet, unverschnitten, Daves Lieblingsmarke. »Was meinst du, Tucker«, sagt er, »ist das Ding sicher zu fliegen?«
     
    Der kleinere Pilot zuckt die Achseln. »Zweieinhalb Jahre«, sagt er. »Mehr Zeit, alles in Ordnung zu bringen, als nach dem Tod von Gus, Chaffee und White bei Apollo 1. Natürlich haben sie die Verbesserung der SRBs an Morton Thiokol übergeben, und die haben ja in erster Linie behauptet, daß die O-Ringe sicher sind.«
    Baedecker lächelt nicht. Er hat den seltsamen, inzestuösen Tanz zwischen Vertragsfirmen und Regierungsagenturen selbst miterlebt und war, wie die meisten Piloten, ganz und gar nicht davon angetan. »Soweit ich gehört habe, wollen sie für den ersten Flug das neue Notausstiegssystem bereit haben.«
    Jetzt lacht Tucker. »Ja, hast du es gesehen, Dick? Sie haben eine lange Stange in der unteren Ladebucht, und während der kommandierende Pilot das Flugzeug gerade und im Unterschallbereich hält, hält sich die Besatzung fest und rutscht daran hinaus wie Forellen an einer Schnur.«
    »Das hätte der Challenger nichts genützt«, sagt Baedekker.
    »Erinnert mich an den AIDS-Witz von dem Heroinjunkie, der keine Angst hat, daß er sich etwas holt, wenn er schmutzige Nadeln benutzt, weil er ein Kondom trägt«, sagt Tucker. Er trinkt den Rest Scotch und schenkt sich neuen

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