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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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frische weiße Vorhänge, ein hohes Messingbett und eine antike Kommode, auf der eine alte Schüssel samt Krug standen. Baedecker sah zum Fenster hinaus, zwischen kahlen Zweigen hindurch in den Vorgarten und zur Straße dahinter. Er konnte sich durchfahrende Buggies vorstellen, aber sonst wenig Verkehr, Die Überreste eines niederen Dielengehwegs lagen verfallen im Gras vor dem Lattenzaun.
    »Komm«, rief Dave von unten, »ich zeige dir die Stadt, bevor es zu dunkel wird.«
    Es dauerte nicht lange, die ganze Stadt anzusehen, selbst zu Fuß. Dreißig Meter von Daves Haus entfernt machte die gestampfte Straße eine Biegung nach Norden und wurde einen Block lang zur Hauptstraße. Die Landstraße zweigte links davon ab, führte über eine Brücke und verlief weiter durch Weizenund Luzernefelder zur zwei Meilen westlich gelegenen Felswand. Der Bach, den Baedecker aus der Luft gesehen hatte, führte durch Daves Grundstück und an dem verwitterten Schuppen vorbei, den dieser als Garage bezeichnete.
    Die Stille war so allumfassend, daß Baedecker das Geräusch ihrer Schritte auf dem Schotter der Hauptstraße als störend empfand. Ein paar Häuser der Stadt machten einen bewohnten Eindruck, und hinter einem vernagelten Bauwerk parkte ein altes Wohnmobil, aber die meisten Häuser waren unkrautüberwuchert und verwittert, die Dachstühle schutzlos den Elementen preisgegeben. Drei Geschäfte standen geschlossen und müßig an der Westseite der Hauptstraße, zwei mit rostigen Fassungen ohne Glühbirnen über den Türen. Eine Zapfsäule vor einem der Geschäfte versprach Super für sieben Cent pro Liter. Auf einem fliegenbesudelten Schild, das schräg im Schaufenster hing stand: ›Coca Cola GESCHLOSSEN Die Pause, die erfrischt‹.
    »Ist es offiziell eine Geisterstadt?« fragte Baedecker.
    »Klar«, sagte Dave. »Die offizielle Bevölkerungszahl weist auf dem Höhepunkt der Sommersaison vierhundertneunundachtzig Geister und achtzehn Menschen aus.«
    »Was ist mit den Leuten, die sich das ganze Jahr hier aufhalten? Was machen die?«
    Dave zuckte die Achseln. »Es gibt ein paar Farmer und Rancher im Ruhestand. Solly, der in dem Wohnmobil da hinten, hat vor ein paar Jahren in der Washington-Lotterie gewonnen und sich mit seinen zwei Millionen hier niedergelassen.«
    »Du machst Witze«, sagte Baedecker.
    »Niemals«, sagte Dave. »Komm, ich möchte, daß du jemanden kennenlernst.«
    Sie gingen eineinhalb Blocks nach Osten, bis zum Stadtrand, und dann eine steile Anhöhe zu der backsteingebauten Schule hinauf. Es war ein eindrucksvolles Gebäude, zweistöckig, mit einer Art übergroßem, verglastem Dachstuhl obenauf. Als sie näher kamen, konnte Baedecker sehen, daß man auf die Restaurierung des alten Gebäudes große Sorgfalt verwendet hatte. Ein gepflegter Garten beanspruchte einen Teil des ehemaligen Schulhofs, die Backsteine waren vor einigen Jahren mit einem Sandstrahler gesäubert worden, die Eingangstür wies hübsche Schnitzereien auf, vor den hohen Fenstern hingen geraffte weiße Gardinen.
    Baedecker schnaufte leicht, als sie die Tür erreichten.
     
    Dave grinste. »Du mußt häufiger joggen, Dickie.« Er klopfte lautstark an einem Türklopfer aus Messing. Baedecker zuckte etwas zusammen, als eine Stimme aus einem Metallrohr ertönte, das dicht an seinem Ohr in den Türrahmen eingelassen war.
    »Dave Muldorff, Miz Callahan«, rief Dave in die Röhre. »Ich habe einen Freund mitgebracht.«
    Baedecker erkannte die alte Sprechmuschel als Teil eines antiquitierten Röhren-Sprechsystems, wie er sie bisher nur in Filmen und einmal während einer Führung durch das Haus von Mark Twain in Hartford gesehen hatte.
    Es erfolgte eine gedämpfte Antwort, die Baedecker als ›Kommen Sie rauf‹ interpretierte, danach ein Summen, als die Tür aufging. Baedecker mußte an das Eingangsfoyer des Mietshauses seiner Eltern in der Kildare Street in Chicago vor dem Krieg denken. Als er eintrat, rechnete er halb damit, die Mischung von schimmligem Teppich, poliertem Holz und gekochtem Blumenkohl zu riechen, die in den Jahren seiner frühen Kindheit stets bedeutet hatte, daß er nach Hause gekommen war. Aber so war es nicht. Das Innere der Schule roch nach Möbelpolitur und dem Abendwind, der zu den offenen Fenstern hereinwehte.
    Baedecker war fasziniert von den Blicken, die er in die Zimmer werfen konnte, als sie die beiden Treppen hinaufgingen. Ein großes Klassenzimmer im Erdgeschoß war in ein zu groß geratenes Wohnzimmer umgewandelt worden.

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