In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
ist noch nicht ganz bereit, den Leichnam herzugeben. Vorsichtig, ganz, ganz behutsam, schiebt er den Finger unter das eingewachste Papier und hebt es an.
Alles, was Peter sehen kann, ist ein Dreieck aus verklumpter Farbe. Ein Kringel aus Ocker mit schwarzen Tupfen.
Vorsichtig zieht er das Papier einen weiteren Bruchteil eines Zentimeters von der Leinwand weg.
» Peter «, schreit Uta.
Mit letzter Sicherheit kann man es nicht erkennen, aber Peter meint etwas gewöhnliches Abstraktes zu sehen, unbeholfen gemalt. Eine Studentenarbeit.
Das ist unter der versiegelten, unberührtenVerpackung? Das ist die verhüllte Reliquie?
Peter dreht sich der Magen um. Was zum Teufel? Muss er … ja, er muss sich …
Er würgt. Als er steht, ist sein Mund bereits voller Erbrochenem, aber er schafft es bis ins Badezimmer, wo er in die Toilette spuckt und dann dasteht und würgt, als es ihm wieder und immer wieder hochkommt.
Uta steht hinter ihm. »Schätzchen«, sagt sie.
»Ist schon gut. Du musst das nicht sehen.«
»Du kannst mich mal, eines Tages werde ich dir die Windeln wechseln. Es ist nicht das Schlimmste auf der Welt. Du weißt, dass wir versichert sind.«
Peter beugt sich noch immer über die Toilettenschüssel. Ist es vorbei? Schwer zu sagen.
»Es ist nicht wegen dem verfluchten Bild. Ich weiß nicht, mir ist schon eine Weile komisch. Vielleicht war der Truthahn ein bisschen verdorben.«
»Geh heim.«
»Niemals.«
»Komm später wieder, wenn du willst. Geh jetzt heim, bloß für eine Stunde. Ich behalte die Idioten da draußen im Auge.«
»Vielleicht eine Stunde.«
»Unbedingt eine Stunde.«
Na schön. Es ist ihm seltsam peinlich, dass er anTyler und seinen Helfern vorbeilaufen muss – irgendwie kommt er sich geschlagen vor. Die Jungen und Destruktiven haben diesmal gewonnen; der alte, empfindlich gewordene Typ hat das Gemetzel gesehen und sich in sein Schwert gestürzt.
An der Tenth Avenue, Ecke Twenty-fourth Street bekommt er ein Taxi. Ihm ist schwindlig, aber nicht mehr schlecht (bitte, lieber Gott).Wie furchtbar wäre es, auf den Rücksitz von Zoltan Kravchenkos Taxi zu kotzen. Zoltan wäre natürlich wütend, er würde Peter rausschmeißen und davonrasen, um die Schweinerei wegzuputzen. In der Öffentlichkeit darf es einem nicht schlecht werden, nicht in NewYork. Man wirkt sofort verarmt, egal, wie gut man gekleidet ist.
Peter schafft es nach Hause, gibt Zoltan ein dickes Trinkgeld, weil Peter zwar nicht in sein Taxi gekotzt hat, es aber hätte tun können. Er schließt die Haustür auf, steigt in den Aufzug. Durch die Übelkeit bedingt, kommt ihm alles leicht unwirklich vor. Er ist so gut wie nie krank, und an einem Montag um zwei ist er nie zu Hause. Doch als er jetzt mit dem Aufzug nach oben fährt – als er sich jetzt vorübergehend in diesem schwebenden Nirgendwo befindet -, erfüllt ihn eine Art kindliche Erleichterung, das alte Gefühl, dass alle Prüfungen und Pflichten aufgeschoben sind, weil man krank ist.
Als er das Loft betritt, nimmt er … was wahr? Eine Präsenz? Eine leichte Unruhe in der gewöhnlichen Luft …
Es ist Missy, der auf dem Sofa schläft. Er ist ohne Hemd, trägt nur seine Cargo-Shorts und ein Bronzeamulett, das an einer Lederschnur um seinen Hals hängt. Sein Gesicht hat im Ruhezustand eine Jugendlichkeit, die nicht so offenbar wird, wenn seine unruhigen, wissbegierigen Augen offen sind. Im Schlaf sieht er erstaunlicherweise wie ein Basrelief am Sarkophag eines mittelalterlichen Söldners aus – er hat sogar die Hände über der Brust verschränkt. Wie ein mittelalterliches Basrelief hat er etwas an sich, das Peter nur als die personifizierte Jugend bezeichnen kann, etwas von einem jugendlichen Helden, der im Leben vermutlich nicht so schön und möglicherweise nicht ganz so heroisch war und mit Sicherheit in der Schlacht, in der er fiel, in blutige Stücke gehauen wurde, aber im Nachhinein – nach dem Leben – verlieh ihm ein unbekannter Handwerker makellose Züge und versetzte ihn unter den aufgemalten Augen von Heiligen und Märtyrern in perfekten Schlaf, während Generationen um Generationen von zeitweilig Lebenden Kerzen für ihre Toten entzünden.
Peter kniet sich neben das Sofa, um Missys Gesicht genauer anzuschauen. Erst als er niedergekniet ist, wird ihm klar, dass es eine komische Anwandlung ist – bußfertig, ehrfürchtig. Und wie will er es erklären, wenn Missy aufwacht? Doch Missys Atem geht leise pfeifend, ruhig – der unerschütterliche Schlaf der
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