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In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

Titel: In die Nacht hinein: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Cunningham
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besser.«
    »Wirklich?«
    »Es muss eine Lebensmittelvergiftung gewesen sein. Mit einem Mal geht’s mir wieder gut.«
    »Komm wieder ins Bett.«
    »Ich brauche etwas frische Luft. Bin in zehn Minuten zurück.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja.«
    Er beugt sich hinab, küsst sie, atmet den schläfrigen, süßlich-schwitzigen Geruch ein, den sie verströmt.
    »Geh nicht zu lange weg.«
    »Mach ich nicht.«
    Wieder der Eispfriem in der Brust. Jemand, der sich Sorgen um dich macht, sich um dich kümmert und für den du das Gleiche tust … Leben Paare nicht länger als Alleinstehende, weil sie besser versorgt werden? Hat nicht jemand eine Studie gemacht?
    Er hat den Bruder seiner Frau belauscht, als er sich einen runtergeholt hat, vermutlich kann er ihr das niemals erzählen, oder?
    Er muss ihr erzählen, dass ihr geschätzter kleiner Bruder wieder Drogen nimmt.Wie und wann soll er das tun?
    Angezogen tritt er aus dem Halbdunkel des großen Zimmers. Unter der Tür zu Missys Zimmer ist kein Lichtstreifen.
    Zeit auszugehen, einfach hinaus in die nächtliche Welt.
    Und hier ist er, lässt die massive Stahltür hinter sich einschnappen und steht auf der obersten der drei Eisenstufen, die zu dem rissigen Gehsteig hinabführen. New York ist in dieser Hinsicht vermutlich die seltsamste Stadt der Welt, so viele ihrer Bewohner (wir) leben inmitten der nicht rekonstruierten Überreste der Industrieklitschen und Mietskasernen des neunzehnten Jahrhunderts, die Straßen sind wellig und voller Schlaglöcher, während gleich da drüben, um die Ecke, eine Chanel-Boutique ist. Wir gehen inmitten der Trümmer einkaufen wie die reichsten, bestgekleideten Flüchtlinge der Welt.
    Die Mercer Street ist spätnachts menschenleer. Peter geht in Richtung Uptown, dann auf der Prince Street nach Osten, in Richtung Broadway, hat kein besonderes Ziel, will nur ganz allgemein zum ausgelasseneren, jüngeren Teil von Downtown, weg von der gedämpften jamesianischen Schläfrigkeit des West Village. Er nimmt sein Spiegelbild wahr, das lautlos neben ihm über die dunklen Schaufenster der geschlossenen Läden huscht. Die Halbstille der Prince Street währt knapp einen Häuserblock, dann kommt er zum Broadway, der natürlich nie ruhig ist, obwohl dieser Abschnitt wie eine Einkaufszeile in Blade Runner wirkt, mit seinen riesigen vorstädtischen Kettengeschäften, Navy und Banana und Etcetera, die sich hier ebenso perfekt reproduziert haben wie sonst wo, auch wenn sie ihre Waren hier im endlosen Getöse des hupenden Verkehrs ausstellen und ihre Eingänge behelfsmäßige nächtliche Unterkünfte sind, die die schlafenden Bewohner aus Pappkartons und Decken zusammengezimmert haben. Peter wartet, bis die Ampel umspringt, überquert inmitten einer kleinen Schar nächtlicher Passanten den unteren Broadway, lauter Paare und Quartette (sie bilden immer Pärchen), die weder alt noch jung sind, die eindeutig wohlhabend sind, die nachts ausgehen und sich anscheinend einigermaßen amüsieren, vermutlich von irgendwo in der Nähe hergefahren sind, in einem öffentlichen Parkhaus ihre Autos abgestellt, zu Abend gegessen haben und jetzt unterwegs sind … wohin? Um ihre Autos zu holen, heimzufahren.Wohin sonst? Das sind keine Leute mit geheimnisvollen Aufträgen.Touristen sind sie auch nicht, sie sind nicht so wie die Gaffer und Schreihälse am Times Square, aber sie leben nicht hier, sie leben in Jersey oder Westchester, sie sind Bürger direkt aus dem Amsterdam des siebzehnten Jahrhunderts, sie überqueren den Broadway, als gehörte er verdammt noch mal ihnen, sie meinen flott auszusehen, sie meinen, sie wären Kreaturen der Nacht, sie haben Nachbarn, die sie für Bürger halten, weil sie nicht gern mit dem Auto nach New York fahren, weil sie lieber daheim bleiben (jetzt bricht die Frau mit dem fransigen Pashminaschal, diejenige, die mit dem Typ in Cowboystiefeln Arm in Arm geht, in Gelächter aus, ein lautes, meckerndes Lachen, ein Drei-Martini-Lachen, das man einen Block weit hört oder so), während die Bewohner von Downtown-Manhattan, diejenigen, die die Tage hier überleben, bescheidener gehen, auf jeden Fall ruhiger, eher wie Büßer, weil es fast unmöglich ist, Hybris zu bewahren, wenn man hier lebt und ständig mit der zügellosen Andersartigkeit anderer konfrontiert ist; Hybris fällt einem sicher leichter, wenn man ein Haus, einenVorgarten und einen Audi hat, wenn man weiß, dass man am Ende der Welt eine Sekunde länger leben darf, weil die Bombe woanders

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