In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
abgeworfen wird; die Schockwelle bringt einen zwar um, aber man ist nicht das Hauptziel, man hat sich aus der Todeszone entfernt, dort, wo man lebt, wird niemand erschossen, niemand von einem blindwütigen Psychopathen erstochen, die größte Gefahr für die persönliche Sicherheit besteht darin, dass der Nachbarssohn möglicherweise bei einem einbricht und ein verschreibungspflichtiges Fläschchen aus dem Medizinschrank stiehlt.
Jetzt, da er auf der anderen Seite des Broadway ist, jetzt, da Cowboystiefel und seine lachende Frau abgebogen sind, nähert er sich da nicht Schritt für Schritt der Lower East Side, einer Gegend, in der er, Peter, mindestens genauso bourgeois ist, mindestens genauso pompös und ahnungslos gekleidet? Er wohnt in einem gottverdammten Loft in SoHo (wie sehr achtziger Jahre ist das ?), er hat Angestellte , und da vorne, nur ein paar Blocks entfernt, sind Scharen junger Headbanger, die in uralten Mietshäusern ohne Aufzug wohnen, die sich mit ihren allerletzten Groschen Bier kaufen. Stellst du dir etwa vor, Peter, dass deine Carpe-Diem-Boots für sie weniger bescheuert aussehen als die Tony Lamas von diesem Typ? Jeder bekommt sein Fett ab, wo immer man auch ist, und je weiter du dich von deinem Reich entfernst, desto lachhafter sind dein Haarschnitt, deine Kleidung, deine Meinungen, dein Leben. In kurzer Laufdistanz von zu Hause sind Gegenden, die genauso gut in Saigon sein könnten.
Also ab nach Downtown. In Richtung Tribeca.
Was macht Bea heute Nacht?
Ihr Leben ist jetzt seit mehr als einem Jahr ein Rätsel, und Peter und Rebecca haben beschlossen (fälschlicherweise?), sie nicht mehr zu bedrängen, sondern abzuwarten, was sie freiwillig erzählt.Warum hat sie die Tufts University verlassen? Sie wollte etwas freie Zeit, sie war ihr Leben lang in der Schule. Okay, das war verständlich.Warum hat sie sich ausgerechnet dafür entschieden, in einer Hotelbar in Boston zu arbeiten und mit einer seltsamen älteren Frau zusammenzuleben, die allem Anschein nach überhaupt keinen Beruf hat? Diese Frage wurde weder gestellt noch beantwortet. Sie vertrauen ihr, sie haben sich dazu entschieden, ihr zu vertrauen, doch mit der Zeit kann Vertrauen dünn und fadenscheinig werden. Sorgen, natürlich sorgen sie sich, aber schlimmer noch ist, dass sie sich fragen, welchen Fehler sie gemacht haben, mit welchem geistigen Virus sie ihre Tochter infiziert haben, der einundzwanzig Jahre zum Reifen gebraucht hat.
Die Sache mit Missy hat Peter aufgekratzt.
Er holt sein Blackberry heraus und ruft per Schnellwahltaste Beas Nummer an.
Er erreicht die Voicemail. Sie nimmt sonntags für Rebecca ab, ihre Mutter mag sie noch oder fühlt sich ihr jedenfalls verpflichtet. Ansonsten geht sie nie ran. Sie hinterlassen gelegentlich Nachrichten, warten auf die Verbindung am Sonntag.
Heute Nacht muss er ihr eine Nachricht hinterlassen. Er muss einen Strauß vor ihrer Tür hinterlassen, obwohl er weiß, dass die Blumen dort welken und verdorren werden.
Ihr Telefon klingelt fünfmal. Und dann, wie erwartet:
»Hallo, hier ist Bea, hinterlassen Sie bitte eine Nachricht.«
»Mein Schatz, hier ist dein Vater. Ich rufe nur an, um hallo zu sagen, wirklich. Und du sollst wissen …«
Bevor er »Ich liebe dich« sagen kann, nimmt sie ab.
»Daddy?«
Mein Gott.
»Hey. Hey du. Ich dachte, du arbeitest vermutlich.«
»Sie haben mich heimgeschickt. Heute Abend war nicht viel los.«
»Tja. Hey.«
Er ist so nervös wie beim ersten Mal, als er Rebecca angerufen hat, um sie zu bitten, mit ihm auszugehen.Was geht hier vor? Bea hat keinen Anruf von ihm entgegengenommen, seit sie aufs College gegangen ist.
»Deshalb bin ich zu Hause«, sagt sie. »Und sehe fern.«
Er ist jetzt an der Bowery.Wo ist Bea? In einem Apartment in Boston, das er nie gesehen hat – sie hat klargemacht, dass sie nicht besucht werden will. Unmöglich, sich keinen älteren Veloursteppichboden und Flecken an der Decke vorzustellen. Bea verdient nicht viel Geld (lehnt Hilfe von ihren Eltern ab), und sie, ein echtes Kind von Ästheten, macht selten mehr mit einem Zimmer, als ein, zwei Poster aufzuhängen. (Ist es noch immer Flannery O’Connor, der mit einem Pfau posiert, und Kafkas sanftes, hübsches Gesicht, oder hat sie sich anderen Passionen zugewandt?)
»Tut mir leid, dass ich so spät anrufe«, sagt er. »Ich dachte, du wärst in der Arbeit.«
»Du hast angerufen, weil du gedacht hast, ich gehe nicht ran.«
Denk schnell.
»Ich glaube, ich habe gedacht,
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