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In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

Titel: In die Nacht hinein: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Cunningham
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fertig. Auch sie hat einen weißen Baumwollmorgenmantel an, den sie für gewöhnlich nicht trägt (sie sind zu Hause nicht sittsam, jedenfalls nicht mehr, seit Bea aufs College gegangen ist).
    Missy schläft anscheinend noch.
    »Ich dachte, ich lasse dich schlafen«, sagt Rebecca. »Geht’s dir besser?«
    Er geht zu ihr, küsst sie liebevoll. »Ja«, sagt er. »Es muss eine leichte Lebensmittelvergiftung gewesen sein.«
    Sie gießt zwei Tassen Kaffee ein, eine für sich und eine für ihn. Sie steht mehr oder weniger genau da, wo Missy letzte Nacht stand. Ihr Gesicht ist schlaff vom Schlaf, ein bisschen fahl. Sie macht dieses erstaunliche Frühmorgending, bei dem sie an einem bestimmten Punkt ihrer Vorbereitungen auf den Tag … in sich einrastet. Es ist keine Frage des Schminkens, sondern ein Aufbieten von Energie und Willen, das sie strahlen und straff werden lässt, ihrer Haut Farbe und ihren Augen Tiefe verleiht. Als triebe im Schlaf ihre grundsätzliche Gabe, gut auszusehen und lebhaft zu sein, davon; als ließe sie im Schlaf all die Fähigkeiten, die sie nicht braucht, los, und hervorstechend ist dabei ihre Vitalität. In diesen kurzen morgendlichen Zwischenspielen sieht sie nicht nur zehn Jahre älter aus, sie sieht auch ein bisschen wie die alte Frau aus, die sie vermutlich einmal sein wird. Sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach schlank und kerzengerade sein, ein bisschen förmlich gegenüber anderen (als ob Würde im Alter eine gewisse freundliche Distanz erforderte), kultiviert, gut gekleidet. Für Rebecca ist der Verzicht auf Exzentrizität ein Mittel, nicht wie ihre Mutter zu werden .
    Er sagt: »Ich habe letzte Nacht Bea angerufen.«
    »Aha?«
    »Ja. Wir haben dieses falsche Kind in unseren Händen, ich wollte plötzlich mit unserem wirklichen Kind sprechen.«
    »Was hat sie gesagt?«
    »Sie ist sauer auf mich.«
    »Das ist ja das Allerneueste.«
    »Sie hat mich vor allem zusammengestaucht, weil ich bei Unsere kleine Stadt mit dem Handy telefoniert habe.«
    Bitte Rebecca, steh mir bei.
    »Daran kann ich mich nicht erinnern.«
    Gesegnet seist du, meine Liebe.
    Sie setzt eine Kaffeetasse an die Lippen, steht da, wo ihr Bruder stand, fast so, als wollte sie die Ähnlichkeit und die Unähnlichkeit vorführen. Missy, der in Bronze gegossen sein könnte, und Rebecca, seine ältere Zwillingsschwester, die mit dem Alter eine menschliche Patina angenommen hat, einen Hauch sterblicher Ermüdung, der nie offenkundiger ist als im Morgenlicht, eine tiefe, herzzerreißende Menschlichkeit, die der Ursprung und das Gegenteil von Kunst ist.
    »Sie schwört, dass ich es getan habe. Sie wollte es sich nicht ausreden lassen. Ich habe es nicht getan, oder?«
    »Nein.«
    Danke.
    »Ich weiß, dass es ein bisschen früh am Tag ist für dieses Gespräch«, sagt er.
    »Nein, ist schon gut.«
    »Es war bloß. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.Wie erklärt man ihr, dass es sich nicht so zugetragen hat, wie sie es in Erinnerung hat?«
    »Ich nehme an, sie ist der Meinung, dass du dazu fähig warst, mit dem Handy zu telefonieren, während sie in dem Stück war.«
    »Glaubst du das auch?«
    Rebecca trinkt nachdenklich einen Schluck Kaffee. Sie wird ihn nicht beruhigen, oder? Er nimmt wohl oder übel ihre Blässe wahr, die drahtige, weiß durchzogene Widerborstigkeit ihrer morgendlichen Haare.
    Die young, stay pretty . Blondie, stimmt’s? Wir halten es für ein modernes Phänomen, das ganze Jugendding, aber wirklich, man denke nur an all die großartigen Porträts, manche davon Jahrhunderte alt. Diese Göttinnen von Botticelli und Rubens, Goyas Maja, Madame X. Man denke an Manets Olympia , die seinerzeit schockierte, weil er seine Geliebte mit der gleichen sinnlichen Verherrlichung malte, die im Allgemeinen braven aristokratischen Mädchen vorbehalten war, die für Darstellungen von Göttinnen posierten. Kaum jemand weiß noch, und niemand schert sich darum, dass Olympia Manets Hure war, obwohl man jeden Grund hat, sich vorzustellen, dass sie im Leben töricht, vulgär und nicht ganz hygienisch war (Paris in den 1860er Jahren, nicht zu vergessen). Sie ist heute unsterblich, sie ist eine große historische Schönheit, die durch die Aufmerksamkeit eines großen Künstlers sauber geschrubbt wurde. Und okay, wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Manet sie nicht etwa zwanzig Jahre später gemalt hat, als die Zeit angefangen hatte, ihr Werk zu tun. Die Welt hat immer das Frische verehrt. Verdammt sei die Welt.
    Rebecca sagt: »Eltern

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