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In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

Titel: In die Nacht hinein: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Cunningham
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irgendeiner ehemals sowjetischen osteuropäischen Stadt sein könnte, die unter den Sowjets düster industriell war und nicht nur düster und industriell geblieben ist, sondern auch zusehends verfällt. Wie eine osteuropäische Stadt ist Bushwick hier und da gewuchert, ums Überleben kämpfende Zeichen von neuem Leben – ein Lebensmittelladen, ein Kaffeehaus -, dazwischen die verglühende Asche des alten neuen Lebens, ein schummriges und verblichenes Hochzeitsausstattungsgeschäft, eine Reinigung, in der man anscheinend glaubt, ein Schaufenster, in dem ein Stapel zusammengefalteter Hemden unter einer vergilbten Grünlilie ausliegt, sei gut fürs Geschäft.
    Peter läuft die Myrtle entlang und hält Ausschau nach Groffs Adresse. Bushwick ist trist, das lässt sich nicht leugnen. Bushwick wollte eindeutig nie etwas anderes als trist sein. Es war immer unbedeutend und funktionell. Die Menschen, die diese Lagerhäuser, Werkstätten und Speicher bauten, haben sich sicher nicht vorgestellt, dass hier tatsächlich jemand leben würde. Hier, in den Außenbezirken, in diesem jedenfalls, erkennt man andere Gründungsabsichten. Wenn Manhattan im Wesentlichen die hehreren Ambitionen des Industriezeitalters widerspiegelt, all diese muskulösen Arbeitergötter, die Säulen tragen, all diese von Zikkuraten gekrönten Gebäude, die zu einem Himmel aufragen, der niemals so nahe zu sein schien, ist Bushwick (weiß Gott, wie alt es ist) von Haus aus bescheiden und einfach, von Anfang an dazu bestimmt (so scheint es), abgelegen zu sein, kleine Teile herzustellen, Waren einzulagern, wie der stämmige, aber beschränkte alte Onkel in einer illustren Familie, ein anständiger Mann ohne Schönheit oder Phantasie, der einen unbedeutenden Job hat und nie geheiratet hat, den jeder kennt, aber nicht unbedingt liebt.
    Und dennoch sind hinter einigen dieser Lagerhausfenster Künstler am Werk.
    Peter fragt sich, ob sich das randständige städtische Halbexil, in dem die meisten Künstler wohnen, auf ihre Produktion auswirkt. Sicher, man erwartet, dass junge Künstler arm sind, sie sollen arm sein, aber die armen Künstler anderer Generationen haben in Paris, Berlin oder London gelebt, sie haben in Greenwich Village gelebt. Gibt es die Impressionisten vielleicht auch deshalb überhaupt, weil es mit einem Mal so viel billiger war, Paris zu verlassen und in die Provence zu gehen? Ja, sie haben kärglich gelebt, aber sie haben an Orten von echter, wenn auch manchmal verfallender Schönheit gelebt; sie haben in Städten und Dörfern gelebt, in denen es rau zugegangen sein mag, aber an ihrer alten Verwurzelung gab es keinen Zweifel, ihrem königlichen Recht, nicht nur zu existieren, sondern sich ihrer eigenen Gewohnheiten und Besonderheiten zu erfreuen. Bushwick hingegen ist ziemlich nahe am Nirgendwo. Seine Gründer gaben sich nicht viel Mühe damit; selbst die ältesten Gebäude wurden offensichtlich so schnell und billig wie möglich hochgezogen. Würde es einem an so einem Ort nicht ein bisschen … albern vorkommen, auch nur daran zu denken, ernsthafte Arbeiten herzustellen, die, wie unvollkommen auch immer, nach Tiefgang streben? Ich meine, hallo, Bushwick, hallo, Amerika, hallo, Megamalls und Futterplätze. Hier ist mein Versuch, die Haut der Vergänglichkeit aufzuschlitzen und zu sehen, was auf der anderen Seite glitzert.Wie peinlich wäre das denn?
    Wer hat gesagt, dass ein Land die Regierung bekommt, die es verdient? Bekommt Amerika die Kunst, die es verdient?
    Und hier ist jetzt Groffs Gebäude, auf halber Höhe eines Industrieblocks an der Wilson Avenue. Peter drückt auf den Summer.
    »Hey, Mann.« Eine tiefe, kräftige Cellostimme.
    »Hey.« Peter Harris, cooler Typ.
    Der Summer summt, und er ist in der Lobby, wenn Lobby das richtige Wort dafür ist – er ist im flackernden Licht des mit beigem Linoleum ausgelegten Eingangs, der ohne besondere Kennzeichen ist, abgesehen von einer verblichenen schwarzen Tafel hinter gesprungenem Glas, an der mit hier und da fehlenden Klebebuchstaben die Namen kleiner Firmen stehen, die vermutlich seit mindestens zwanzig Jahren eingegangen sind.
    Peter steigt in den Aufzug, der seltsamerweise nach Traubenkaugummi riecht. Die Tür schließt sich asthmatisch, und Peter stellt sich kurz vor, mit dem Ding stecken zu bleiben oder, noch schlimmer, bis knapp vor den fünften Stock zu kommen,wo Groffs Atelier ist, und abzustürzen. Versuche nicht an die von Ratten zernagten Trossen zu denken, die dich

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