In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
tun). Die Sixtinische Kapelle ist nicht nur genial gemalt, sie ist wie ein Orchester. Die Fresken erfüllen die Kapelle auf eine Art und Weise, wie es eine bemalte Fläche nach den herkömmlichen physikalischen Gesetzen nicht kann.
Peter tritt näher. Hier, auf der Wand der Vase, stehen die Zetereien und Grausamkeiten, ordentlich wie Hieroglyphen, in beherrschter, leicht femininer kursiver Handschrift aufgeführt. Auf der Peter zugewandten Seite: mindestens vierzig abstoßende Gossenbezeichnungen für das weibliche Geschlechtsorgan, der Text eines wahrhaft abscheulichen, misogynen und homophoben Hip-Hop-Songs (Peter kennt ihn nicht, er ist nicht annähernd so hip), ein Abschnitt aus Valerie Solanas’ Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer (das kennt er), etwas Abstoßendes von einer Website über die Suche eines Typen nach stillenden Frauen, die ihm in den Mund spritzen sollen.
Es ist gut. Es ist pervers, aber gut. Es hat nicht nur als Objekt Präsenz, es hat tatsächlich Gehalt, was heutzutage selten ist – Gehalt, das heißt, mehr als ein Fragment von einem Fragment einer schlichten Idee. Es verweist auf all die flüchtig abgehandelte Geschichte, mit der wir aufgewachsen sind, all die künstlerischen Tribute an Große Denkmäler und Mühsam Errungene Siege, bei denen das Leiden der einfachen Menschen, die beteiligt waren, nicht zur Kenntnis genommen wird, und präsentiert sich gleichzeitig als ein Ding, das zumindest theoretisch bis in eine ferne Zukunft Bestand haben könnte, eine, in der (sagt Groff) verschiedene bittere Wahrheiten ausgesprochen werden.
Vielleicht war Peter zu hart zu sich. Und zu Groff.
Und ja, Peter bereitet bereits seine Ansprache für Carole vor. Genau genommen, in Wahrheit, ist es mehr als gut genug. Es ist die Verkörperung einer Idee, einer einzigen Idee, die zwar nirgendwo hinführen mag, aber an der Oberfläche weder naiv noch läppisch ist. Außerdem, und das ist heutzutage selten, ist es ein hübsches Ding. Das sind Pluspunkte.
»Das ist großartig«, sagt Peter.
»Danke.«
Carole wird sich (vermutlich) über den Feminismus amüsieren, der in all dieser heftigen Misogynie mitschwingt. Sie steht nicht auf Schock um des Schocks willen (was hat er sich dabei gedacht, als er ihr den Krim verkaufen wollte?), aber mit diesem ruhigen und boshaften Objekt hätte sie etwas, worüber man reden kann, etwas, das sie den Chens und den Rinxes und wem sonst noch alles erklären kann.
»Ich würde es Carole liebend gern zeigen. Halten Sie es immer noch für eine gute Idee?«
»Yeah. Durchaus.«
»Und ich habe Ihnen gesagt, dass sie es gern bei sich daheim sehen würde, am liebsten gleich.«
»Lady Potter ist es gewohnt, zu kriegen, was sie will, was?«
»Tja, ja. Aber sie ist wirklich und wahrhaftig kein Arschloch. Und wenn wir es bis morgen in ihrem Garten aufstellen können, werden es Zhi und Hong Chen am nächsten Tag sehen. Wie Sie vermutlich wissen, sind die Chens große Käufer.«
»Dann machen wir es.«
»Gut.«
Sie stehen einen Moment lang da und schauen auf die Vase.
»Meine Jungs fahren morgen hin, um den Krim abzubauen«, sagt Peter. »Sie könnten die Vase mitnehmen.«
»Was tut denn Krim in diese Dinger rein?«, fragt Groff.
»Teer. Harz. Pferdehaare.«
»Und …«
»Offen gesagt, ist er ein bisschen zugeknöpft, was einige seiner Materialien betrifft. Ich respektiere das.«
»Ich habe gehört, dass im MoMA mal eins den ganzen Boden vollgetropft hat.«
»Deswegen sind die Böden aus Beton. Also. Wie wär’s, wenn ich morgen Mittag mit meinem Trupp herkomme?«
»Sie arbeiten schnell, Peter Harris.«
»So ist es. Und ich kann Ihnen versprechen, dass Carole nicht um den Preis feilschen wird. Nicht, wenn wir ihr so einen Gefallen tun.«
»Gut. Und mittags ist bestens«, sagt Groff.
»Ich bringe morgen die Papiere und alles Weitere mit. Ich erwarte nicht, dass Sie mir das Stück einfach leihen.«
»Natürlich nicht.«
»Okay dann«, sagt Peter. »War mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.«
»Desgleichen.«
Sie schütteln sich die Hand, gehen zum Aufzug zurück. Groff muss in einem relativ winzigen Kabuff hinter dem Atelier wohnen – das Loft kann nicht so groß sein. Es ist eine Art Fetisch, vor allem bei diesen jungen Typen – der Arbeitsplatz ist tadellos, und der Wohnbereich tendiert in Richtung Teenagerschlafzimmer. Schäbige Matratze am Boden, überall verstreute Kleidung, Grill-Toaster und Minikühlschrank, ein schockierend schmutziges,
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