In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
dass Matthew sterben würde? Ja, vermutlich, obwohl er zu jung war, um das einzugestehen, sogar sich selbst. War das nicht die eigentliche Botschaft an diesem Tag, vor Jahrzehnten, als Matthew und Joanna in den Michigansee hinausgewatet sind und für Peter wie die personifizierte Schönheit aussahen? Warum in diesem Moment? Weil sie tragische Liebende waren, weil sie am Rande von irgendetwas standen, Joanna auf dem Weg zu einer bewachten Wohnsiedlung und Matthew zu einem Krankenhausbett im St.Vincent’s. Inwiefern hatte der verzweifelte, geile, zwölf Jahre alte Peter begriffen, dass er seine erste wirkliche Vision von der Sterblichkeit hatte und dass es das Anrührendste und Phantastischste war, was er jemals gesehen hatte? Hat er nicht seither nach einem weiteren derartigen Moment gesucht?
Missy wird an einer Überdosis sterben. Er hat im Grunde genommen genau das gesagt, nicht nur zu Peter, sondern zu Wasser und Himmel. Er ist zugänglich für die Kräfte der Sterblichkeit. Er kann nichts – wird nichts – finden, das ihn hinreichend ans Leben binden wird.
Peter hat bereits an Stränden gewartet und mit Todkranken neben Haien gestanden. Diesmal zieht er seine Schuhe und Socken aus, krempelt seine Hose hoch und watet hinaus, um neben Missy zu stehen. Missy weint in der Tat leise vor sich hin und blickt zum Horizont.
Peter steht schweigend neben Missy. Missy dreht sich zu ihm um, entbietet ein nassäugiges Lächeln.
Und dann, so scheint es, küssen sie sich.
Im Traum
Der Kuss dauerte nicht lange. Er war leidenschaftlich, leidenschaftlich genug, aber nicht unbedingt, nicht ganz sexuell. Können zwei sich küssende Männer kameradschaftlich gewesen sein? So hat es sich für Peter angefühlt. Da war keine Zunge, kein Tasten. Sie haben sich lediglich geküsst, nicht kurz, aber mehr war es nicht. Missys Atem war klar und ein bisschen süß, und Peter hat sich nicht so darin verloren, dass er seine Sorge vergessen hat, er könnte den kratzigen Atem eines Mannes mittleren Alters haben.
Sie haben sich im gleichen Moment voneinander gelöst – keiner von ihnen hat zuerst aufgehört – und einander angelächelt, einfach gelächelt.
Peter fühlt sich nicht schlecht, er hat nicht einmal das Gefühl, eine Grenze überschritten zu haben, nicht ganz, obwohl es natürlich schwer wäre, jemanden davon zu überzeugen, der zugesehen hat (ein kurzer Blick – niemand da), dass es nicht lustvoll war. Er ist vernarrt und ausgelassen und schämt sich nicht.
Nach dem Kuss hat er Missys Kopf gerubbelt, als hätten sie gerade spaßeshalber eine Art unschuldigen Ringkampf ausgetragen. Dann haben sie sich umgedreht und sind zum Strand zurückgeplatscht.
Missy ist es, der das Wort ergreift, als sie barfuß den Rasen hinauflaufen. Peter wäre die Stille ausnahmsweise lieber gewesen.
»Und nun, Peter Harris«, sagt Missy. »Bin ich dein Erster?«
»Äh, ja. Ich wette, ich bin nicht dein Erster, oder?«
»Ich habe drei andere Typen geküsst. Damit bist du mein Vierter.«
Missy bleibt stehen. Peter geht zwei Schritte weiter, bemerkt es, geht zurück. Missy schaut ihn mit diesem nassäugigen Tiefgang an.
»Ich habe was für dich übrig, seit ich ein kleines Kind war«, sagt er.
Sag mir nicht so was.
»Hast du nicht«, sagt Peter.
»Als du zum allerersten Mal zum Haus gekommen bist. Ich habe auf deinem Schoß gesessen, und du hast mir Babar, der kleine Elefant vorgelesen. Hast du gedacht, das war völlig unschuldig?«
»Natürlich. Um Gottes willen, du warst vier Jahre alt.«
»Und ich hatte so ein tiefes, wohliges Gefühl, das ich nicht begriffen habe.«
»Und. Du bist schwul.«
Missy seufzt. »Ich glaube, ich bin wegen dir schwul«, sagt er.
»Komm schon.«
»Das ist zu viel, nicht wahr?«
»Ein bisschen, ja.«
Missy sagt: »Ich will es bloß sagen. Und danach können wir, ich weiß nicht. Nie wieder drüber reden, wenn du nicht willst.«
Peter wartet. Lass uns über alles reden, selbst wenn ich mich wortkarg geben muss.
Missy sagt: »Bei diesen anderen Typen habe ich an dich gedacht.«
»Das ist eine Art Vaterding«, sagt Peter, obwohl es ihm wehtut.
»Ist es deshalb nichts?«
»Es ist … ich weiß nicht. Es ist, was es ist.«
»Ich werde dich nie wieder küssen, wenn du es nicht willst.«
Was will ich denn? Herrgott, ich wünschte, ich wüsste es.
Er sagt: »Wir dürfen es nicht. Ich bin vermutlich der einzige Mann auf der Welt, mit dem du nicht rummachen darfst. Nun ja, ich und dein leiblicher
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