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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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verbracht, doch keiner war so nachhaltig von der kurzen Begegnung mit dem Jungen beeinflußt wie Ronald Franz, der im Januar 1992, als sich ihre Wege kreuzten, achtzig Jahre alt war.
    Nachdem McCandless sich von der Post in Salton City von Jan Burres verabschiedet hatte, zog er zu Fuß in die Wüste weiter und schlug sein Lager in einem Kreosotgebüsch am Rand des Anza - Borrego Desert State Park auf. Ganz in der Nähe davon befindet sich der Saltonsee, ein gut achtzig Meter unter dem Meeresspiegel gelegener Miniaturozean, der 1905 durch einen katastrophalen Planungsfehler entstanden war: Kurz nachdem vom Colorado River ausgehend ein Kanal angelegt worden war, um das fruchtbare Ackerland des Imperial Valley zu bewässern, durchbrach der Fluß während mehrerer großer Überschwemmungen seine Ufer, spülte sich eine neue Stromrinne frei und ergoß sich in den Imperial Valley - Kanal. Über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren strömten so ungehindert die gesamten, ungeheuren Wassermassen des Colorado in die Salton - Bodensenke. Das Wasser brach über die ehemals ausgedörrte Senke ein und überflutete Gehöfte und Siedlungen. Schließlich wurde ein vierhundert Quadratmeilen großes Wüstengebiet überschwemmt, und ein künstlicher See entstand.
    Das Westufer des Saltonsees, der nur fünfzig Meilen von den Limousinen, den exklusiven Tennisclubs und den saftig grünen Golfplätzen von Palm Springs entfernt liegt, war einst Schauplatz reger Immobilienspekulationen. Luxuriöse Feriensiedlungen waren in Planung, grandiose Villen bereits entworfen. Aber von der versprochenen Erschließung des Geländes kam wenig zustande. Heute liegen die meisten Grundstücke unbebaut da, und die Wüste erobert Meter um Meter ihr Terrain zurück. Durch die breiten, menschenleeren Boulevards von Salton City weht das Steppenläuferkraut. Verblichene Schilder mit der Aufschrift »For Säle« säumen den Straßenrand, und an den unbewohnten Häusern blättert die Farbe ab. Auf einem Anschlagzettel im Fenster des Salton - Sea - Immobilien und Planungsbüros steht groß und unmißverständlich: CLOSED/CERRADO. Die gespenstische Stille wird nur vorn Röcheln des Windes unterbrochen.
    Die Landschaft steigt vom Seeufer aus erst zögernd, dann immer steiler an, um schließlich in die verdörrten, gespenstischen Badlands von Anza - Borrego überzugehen. Die bajada unterhalb der Badlands ist eine offene Fläche, die von sogenannten arroyos durchschnitten wird, kleinen Bächen und Flußarmen mit steilen, felsigen Ufern. Hier, auf einem kleinen, verdörrten Hügel, der mit Feigenkakteen, Bastard - Indigosträuchern und drei Meter hohen Kerzenstrauchstämmen gesprenkelt ist, schlug Chris McCandless sein Lager auf. Er hängte an dem Ast eines Kreosotbusches eine Plane als Sonnenschutz auf und schlief auf dem Sandboden.
    Zum nächsten Dorf waren es nur vier Meilen. Wenn er Proviant brauchte, ging er zu Fuß oder fuhr per Anhalter dorthin, um Reis zu kaufen oder seinen Plastikcontainer mit Wasser aufzufüllen. Das einzige Geschäft am Ort, ein beiges stuckverziertes Gebäude, war Supermarkt, Spirituosenladen und Postamt in einem. Darüber hinaus füngierte es als eine Art Nachrichtenbörse von Salton City und Umgebung. Als er an einem Donnerstag Mitte Januar mit aufgefülltem Container wieder in die bajada zurücktrampte, hielt ein älterer Mann namens Ron Franz an und nahm ihn mit.
    »Wo haben Sie Ihr Camp?« fragte Franz.
    »Draußen hinter Oh - My - God Hot Springs«, erwiderte McCandless.
    »Ich bin mittlerweile sechs Jahre in dieser Gegend und hab noch nie von diesem Ort gehört. Sie müssen mir sagen, wie ich da hinkomme.«
    Sie fuhren erst den Borrego - Salto Seaway entlang, und nach ein paar Minuten bat McCandless ihn, nach links ins Wüstengebiet abzubiegen, wo sich ein holpriger, nur mit Allradantrieb zu bewältigender Pfad an einem schmalen Trockenbett entlangschlängelte. Nach ungefähr einer Meile erreichten sie einen seltsamen Lagerplatz, an dem gut zweihundert Menschen in ihren fahrbaren Untersätzen überwinterten. Die Kommune lebte jenseits aller gesellschaftlicher Normen, sie war gleichsam eine Vision des postapokalyptischen Amerika. Man traf dort auf Familien, die sich in billigen Zeltanhängern verschanzten, alternde Hippies in bunt bemalten Kleinbussen und Charles - Manson - Doppelgänger in verrosteten Studebakers, die schon seit Eisenhowers Zeiten rumstanden. Viele liefen splitternackt herum. Im Schatten einer Palmengruppe im

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