In dunkler Tiefe sollst du ruhn: Mitchell & Markbys zwölfter Fall
Manchmal muss man eben einfach einräumen, dass man verschiedener Meinung ist.« Tammy hatte sich ein wenig entspannt, doch sie blieb weiterhin vorsichtig.
»Ich hoffe sehr, dass Sie und Dad nicht streiten.«
»Das kann ich dir nicht versprechen. Wir sind alle nur Menschen. Aber wenn dein Dad und ich uns streiten, dann bestimmt nicht so, wie er sich mit Sonia gestritten hat. Er hat sich viel mit Sonia gestritten, nicht wahr?«
»Die ganze Zeit. Sie haben sich angeschrien. Dad hat vorher nie geschrien, bevor Sonia kam. Er und meine Mum haben das nie gemacht. Aber als Sonia kam, ist Dad anders geworden. Er hat aufgehört zu pfeifen.«
»Aufgehört zu pfeifen?«, fragte Jane verblüfft.
»Ja. Früher konnte ich ihn immer hören, wenn er frühmorgens nach draußen gegangen ist, um die Kühe zu melken. Ich hab noch im Bett gelegen, aber ich konnte ihn pfeifen hören. Er pfeift wirklich gut und trifft immer den richtigen Ton. Nicht wie manche Leute, wissen Sie? Dad hat gepfiffen, wie manche Leute singen. Und dann, nachdem Sonia kam, hat er damit aufgehört. Ich konnte ihn immer noch hören, wie er aus dem Haus ging und über den Hof zu den Kühen, aber er hat nicht mehr gepfiffen. Überhaupt nicht.« Tammy zögerte.
»Es hat mich ganz traurig gemacht«, fügte sie dann hinzu.
»Vielleicht weil du gespürt hast, wie unglücklich dein Vater war?«
»Ich weiß, dass er unglücklich war!«, sagte sie heftig.
»Deswegen bin ich auch froh, dass sie weg ist. Vielleicht wird Dad jetzt wieder so, wie er früher gewesen ist, bevor Sonia zu uns kam. Ich wünschte, er wäre wieder wie früher. Aber er pfeift immer noch nicht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er Angst und Sorgen hat wegen der Polizei.« Jane spürte Unruhe in sich aufsteigen. Dad hat sich verändert, hatte Tammy gesagt. Ihre Worte erinnerten sie an Merediths Aussage, dass selbst die freundlichsten Menschen unter Stress getötet hatten. Nicht Hugh, hatte Jane erwidert, und sie hatte es ernst gemeint. Sie wusste nicht, warum sie so sicher hatte sein können. War es töricht? Weigerte sie sich, den unerwünschten Möglichkeiten ins Auge zu blicken? Weil sie um Tammys willen wollte, dass alles in Ordnung war? Warum hätte Hugh nicht die Frau töten sollen, die sein und das Leben seines Kindes unerträglich machte? Was war mit den Unstimmigkeiten, die Jane bereits aufgefallen waren in der Geschichte, die Tammy der Polizei erzählt hatte? Tammy hatte gelogen. Sie hatte behauptet, an den Hausaufgaben gesessen zu haben. Wenn Tammy gelogen hatte, dann um ihren Vater zu schützen. Einen anderen Grund konnte es nicht geben.
»Hat die Polizistin mit dir über deinen Vater und Sonia gesprochen?«, fragte Jane leise.
»Über die Streitereien?« Tammy legte den Kopf zur Seite und dachte nach, bevor sie antwortete.
»Nun ja, nicht direkt. Sie hat mich nach dem Abend gefragt – jenem Abend, Sie wissen schon. Sie hat gefragt, ob ich Dad und Sonia reden gehört hätte, nachdem ich auf mein Zimmer gegangen war, aber ich habe geantwortet, dass ich nichts gehört hätte.«
»Du hast geantwortet, du hättest nichts gehört? Oder hast du wirklich nichts gehört?« Jane hatte ihre Erfahrungen mit Tammys Art und Weise, Haare zu spalten.
»Ich habe nichts gehört«, sagte Tammy kalt.
»Wirklich nicht.«
»Du hast gesehen, wie sie das Haus verlassen hat? Das hast du der Polizistin gesagt, nicht wahr? Dein Onkel Simon hat es deinem Vater erzählt.«
»Ich habe gesehen, wie sie aus dem Haus gegangen ist! Das ist die Wahrheit!« Tammys Augen blitzten wütend. Jane zwang sich zur nächsten Frage, obwohl sie fürchtete, dass die Antwort nicht so ausfallen würde, wie sie es sich wünschen würde. So beiläufig wie möglich fragte sie:
»Tammy, hast du Sonia zurückkommen sehen?« Tammy schüttelte wild den Kopf, und die Haare fielen ihr ins Gesicht. Ihre Stimme klang schrill, als sie antwortete.
»Sie ist nicht … sie ist nicht zurückgekommen!«
»Schon gut, reg dich nicht auf, Tammy!«, versuchte Jane sie zu beruhigen.
»Hat die Polizistin noch viele andere Fragen ge stellt?« Tammy schob sich die Locken aus dem Gesicht, und Jane erkannte verblüfft Triumph in ihrem Gesicht.
»Sie wollte gerne, aber Onkel Simon hat sie nicht gelassen!« Da haben Sie es! Jane blickte in ihren Becher mit dem erkaltenden Tee. Die Milch hatte eine helle Haut gebildet, und das Ganze war untrinkbar geworden. War sie nicht die Einzige, die erkannt hatte, dass irgendetwas nicht stimmte? Hatte
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