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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
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grummelte irgendetwas über schlechte Bezahlung und Schiffseigner, die mehr von Titeln hielten als von vernünftiger Arbeit, und dann erzählte er uns, dass die Zarin Alexandra »an einen amerikanischen Geizkragen verkauft wurde, der genau wusste, wie man das meiste aus dem Kahn herausholen konnte.«
    Mary Ann liebte Geschichten von Hochzeiten, und so fragte sie Mr Sinclair nach der Hochzeitsfeier von Nikolaus und Alexandra und äußerte die Vermutung, sie sei bestimmt großartig gewesen. »Ich weiß nur, dass sie im Winterpalast in St. Petersburg stattfand«, erwiderte Mr Sinclair. »Und der Winterpalast, meine Liebe, ist ganz gewiss großartig.« Als sie das hörte, stieß mich Mary Ann leicht in die Seite und flüsterte: »Das Schiff wurde für Sie gebaut, Grace. Sie heißen mit Nachnamen Winter, und Sie sind frisch verheiratet!« Henry war zwar nur geschäftlich nach London gereist und hatte sich erst in letzter Minute entschlossen, mich mitzunehmen – zum einen, weil er, wie er sagte, es nicht ertragen konnte, von mir getrennt zu sein, und zum anderen, weil er mich fernab des Zugriffs seiner Mutter heiraten wollte, die in meiner Vorstellung mehr und mehr einem riesigen Falken glich –, aber trotzdem fühlte ich mich gleichermaßen auserwählt wie verdammt bei der Vorstellung, dass die Zarin Alexandra einzig für mich und Henry erbaut worden war. In den darauffolgenden Tagen erschuf ich in meiner Fantasie ein Traumgebilde und nannte es Winterpalast. Dort würden Henry und ich leben. Die Räume waren kühl, hatten hohe Bogenfenster, durch die man die endlosen smaragdgrünen Rasenflächen sehen konnte, und Türen, die hinaus auf sonnige Terrassen führten. Ich gestaltete den Palast nach der Architektur meines Geistes, und ich verbrachte Stunden damit, durch die Räume zu streifen und dabei in Gedanken hier und da Details zu verändern.
    Die Reise nach Europa hatten wir auf einem kleinen Postdampfer angetreten. Wir waren noch nicht verheiratet, gaben uns dem Kapitän gegenüber aber als Mann und Frau aus. Trotzdem wollte Henry es vermeiden, jemandem zu begegnen, den er kannte, bis wir den Bund fürs Leben geschlossen hatten. Vor unserer Abreise hatten wir keine Zeit mehr dazu gehabt. Henry meinte, es sei doch spaßig, so zu tun, als seien wir nicht wohlhabend, und er versicherte mir, dass wir unsere Garderobe in London ergänzen würden. Ich verriet ihm nicht, dass ich über keine Garderobe verfügte, die hätte ergänzt werden können, und ich musste lachen bei dem Gedanken daran, dass ich nun nur noch so tun müsste, als sei ich arm!
    Außer uns gab es noch sieben weitere Passagiere auf dem Postdampfer, aber neben mir nur noch eine andere Frau. Wir speisten alle mit dem Kapitän, es war sehr familiär, und wir bedienten uns von großen Platten, die wir einander von einem Ende des Tisches zum anderen reichten. Bei einer Gelegenheit kamen wir auf die Frage nach dem Wahlrecht für Frauen zu sprechen. Die Männer fragten die andere Frau, was sie davon hielte, und sie erwiderte: »Über so etwas habe ich noch nie nachgedacht.« Dabei errötete sie, weil sie plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und des Gesprächs stand, das normalerweise ausschließlich von den Männern geführt wurde. Ich dagegen hörte mich plötzlich sagen: »Natürlich sollten Frauen wählen dürfen!« In meiner Stimme lag ein Ton von felsenfester Überzeugung, und zwar nicht deswegen, weil mir dieses Thema besonders am Herzen lag, sondern einzig und allein, weil ich das Gefühl hatte, dass die Männer jene andere Frau missbrauchten, um etwas zu demonstrieren. Später meinte Henry stolz zu mir: »Du hast ihnen gründlich den Kopf gewaschen.« Aber die meiste Zeit hielten Henry und ich uns aus den Gesprächen heraus und sparten unseren Atem für die Zeit auf, in der wir allein waren.
    Als Mr Hardie geendet hatte, erzählten uns andere Insassen des Bootes ihre Geschichten über die Explosion an Bord der Zarin Alexandra und äußerten Vermutungen, was sie ausgelöst haben mochte. Man konnte sich nicht einigen, ob die Explosion die Ursache für den Untergang oder bloß eine Nebenwirkung gewesen war. »Eine Nebenwirkung wovon?«, fragte der Colonel, aber keiner wusste darauf eine Antwort.
    Fast alle konnten eine Anekdote von der Titanic erzählen, die vor etwa zwei Jahren auf spektakuläre Weise gesunken war. Mrs McCains jüngere Schwester gehörte zu den Überlebenden, und wir lauschten atemlos, was sie zu diesem Ereignis zu sagen hatte, und

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