In einem Boot (German Edition)
strengen Blick zu und sagte: »Sie hat sich geirrt. Niemand wurde am Kopf getroffen.« Und dann gab sie eine völlig erfundene Geschichte zum Besten, von einem fast leeren Rettungsboot, das Leute aus dem Wasser aufsammelte. Mrs Grant beteuerte, sie habe es ebenfalls gesehen, und duldete nicht, dass irgendjemand ihr widersprach. Dann wechselte sie abrupt das Thema und erzählte, sie habe Mr und Mrs Worthington Smith bis zuletzt auf Liegestühlen an Deck sitzen und Zigaretten rauchen sehen. »Er sagte: ›Kinder und Frauen zuerst.‹ Und sie sagte: ›Ich bin noch niemals von meinem Worthy getrennt gewesen, und ich werde ganz gewiss jetzt nicht damit anfangen.‹« Später hörte ich eine ähnliche Geschichte über ein Paar auf der Titanic , und ich frage mich, ob Mrs Grant uns nur ein Märchen auftischte, um Mrs Fleming von ihrem Kummer abzulenken.
»Das ist wahre Liebe«, sagte Mary Ann verträumt. Entsetzen und Tod kamen uns plötzlich romantisch und sinnbringend vor. Immerhin hatte auch Henry romantisch an mir gehandelt, wenn auch ohne die edlen Worte und die Zigarette. Ich versuchte, den panischen Ausdruck auf seinem Gesicht zu verdrängen, mit dem er mich Mr Hardie in die Arme geschoben und ihn angefleht hatte, mich in ein Rettungsboot zu setzen. Ich wollte Henry auf die Wange küssen und ihm das Versprechen abnehmen, mir zu folgen, aber er war so damit beschäftigt, Mr Hardie irgendwelche letzten Instruktionen zu geben, die ich in meinem angsterfüllten Zustand nicht verstand, dass ich nicht die Gelegenheit bekam, mich von ihm zu verabschieden. Ich sah ihn lieber winkend und fröhlich lächelnd auf einem Liegestuhl vor mir als im kalten schwarzen Wasser treibend, wo er sich verzweifelt an Holzsplitter des Wracks klammerte. Aber am liebsten malte ich mir das Bild von ihm aus, wie er, gekleidet in den Anzug, den er zu unserer Hochzeit getragen hatte, in New York auf mich wartete. Henry war immer in der Lage, einen Tisch in einem überfüllten Restaurant zu bekommen oder Karten für eine ausverkaufte Opernvorstellung. Es ist Ironie des Schicksals, dass er mit dem gleichen glücklichen Händchen die Überfahrt auf der Zarin Alexandra gebucht hatte. Wegen des drohenden Krieges in Europa wollten viele Amerikaner in ihre Heimat zurückkehren, und Fahrscheine für die erste Klasse waren so gut wie nicht mehr zu bekommen. Als ich Henry fragte, wie er das bewerkstelligt hatte, sagte er nur: »Es ist ein kleines Wunder. So ähnlich wie das Wunder, das dich zu mir geführt hatte, als ich schon dachte, ich müsste Felicity Close heiraten.«
Jetzt sagte Mr Hardie: »Es gab mehr als genug Rettungsboote für alle, zwanzig Boote für jeweils vierzig Personen.« Aber selbst mein ungeübtes Auge erkannte auf den ersten Blick, dass die Boote nicht für vierzig Mann gemacht waren. Trotzdem war es eine nützliche Täuschung, denn so konnte ich mir einreden, Henry habe gewiss überlebt, trotz des Chaos auf der Zarin Alexandra , das ich in den letzten Minuten vor ihrem Untergang miterlebt hatte. Später erfuhren wir, dass die meisten Rettungsboote auf der Steuerbordseite des Schiffes verbrannt waren und dass andere nur halb voll von dem sinkenden Schiff abgestoßen hatten.
Um vier Uhr aßen wir ein kleines Stückchen Brot und Käse. Colonel Marsh besaß eine große Taschenuhr, und Mr Hardie hatte ihn beauftragt, die Zeit im Auge zu behalten. Hin und wieder rief er: »Die Zeit, bitte, Sir!« Dann zog der Colonel seine Uhr aus der Tasche und verkündete, wie spät es war. Er sah dabei sehr wichtig aus, gab sich aber alle Mühe, diese seiner Meinung nach bedeutsame Rolle im Gefüge unseres Bootes herunterzuspielen. Mr Hardie hatte gesagt, die Uhrzeit sei nötig, um den Längengrad zu bestimmen, und sie diskutierten lang und breit darüber, wie genau das funktionieren sollte. Vielleicht war es dieses Gespräch, das dem Colonel die Courage verlieh zu fragen: »Meinen Sie nicht, dass Sie uns ein bisschen mehr zu essen und zu trinken geben könnten als diese paar Brocken? Wir haben doch jede Menge Vorräte, gemessen an Ihrer Vermutung, dass wir jeden Moment auf ein vorbeifahrendes Schiff treffen werden.« In der Tat nahmen die Dosen mit Zwieback und die Wasserfässchen im hinteren Bootsteil viel Raum ein. Aber Mr Hardie ließ sich nicht von seiner Rationierung abbringen. Anfangs lachten wir darüber. »Hardie ist ein strenger Kommandeur«, sagten wir fast liebevoll. Obwohl wir einander kaum kannten, entstand in dem Boot allmählich ein
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