In einem Boot (German Edition)
Zusammengehörigkeitsgefühl. Wir betrachteten uns als Gruppe, mit Hardie im Mittelpunkt, ähnlich wie ein Sandkorn im Zentrum einer Perle liegt.
Die hohen Wolken verfärbten sich rosa und golden wie eine gemalte Barockdecke, hier und da durchbrochen von Streifen aus silbrigem Licht. »Schaut!«, rief Mrs Hewitt, der ein Hotel gehörte, und alle wurden still. Denn einer der Sonnenstrahlen hatte unser Boot auserwählt, und wir schaukelten ehrfürchtig schweigend und erleuchtet auf den Wellen, bis Mary Ann ihre Stimme erhob und die Hymne Herr, Gott, du bist unsre Zuflucht für und für anstimmte. Wie auf Kommando brach ein französisches Dienstmädchen namens Lisette in Tränen aus, und erst als die letzte Note des Liedes verklungen war, wandelte sich der Himmel und unser Boot wurde vom Schatten einer Wolke verdunkelt.
Wir spekulierten darüber, welche Bedeutung diese natürliche oder übernatürliche Erscheinung haben mochte. Der Diakon sagte: »Ich denke, wir können eine Parallele ziehen zwischen diesem Lichtstrahl und der Tatsache, dass wir auserwählt wurden, in diesem Boot gerettet zu werden.«
»Noch sind wir nicht gerettet«, sagte Hannah. Ich setzte an zu sagen: »Gott hilft denen, die sich selbst helfen«, verstummte aber nach den ersten drei Worten, als ich bemerkte, wie Mrs Grant mich abschätzend und irgendwie berechnend betrachtete. Diesmal hatte sie nicht mitgesungen und schien in sich gekehrt zu sein, ausgeschlossen von dem kollektiven Gefühl der Kameradschaft, das uns dieser herrliche Abendhimmel geschenkt hatte, und der Dankbarkeit, dass wir bislang verschont worden waren. Selbst Mr Hardies neuerliche Schätzung, unsere Vorräte – Essen und Wasser – würden drei oder vier Tage lang reichen, konnte unsere Hochstimmung nicht trüben. Denn drei oder vier Tage waren mehr als genug.
Nacht
Als die Nacht über uns kam, erklangen noch mehr Lieder. Hannah, die mit Mrs Grant Freundschaft geschlossen zu haben schien oder sie vielleicht schon vorher gekannt hatte, betrachtete mich mit einem merkwürdigen Blick, der mich veranlasste, instinktiv nach meinem Haar zu tasten und mir über mein Aussehen Sorgen zu machen. Hannah hatte graue Augen und lange Haare, die der Wind zu dicken Flechten verwehte. Sie hatte sich ein durchsichtiges Stück Stoff um die Schultern gelegt, das zart in der Brise flatterte wie die Flügel einer als Vogel verkleideten Göttin. Als Hannah mit dem Schöpfen an der Reihe war, verlangte sie, mit der Person, die neben mir saß, die Plätze zu tauschen. Dann legte sie den Arm um meine Schultern und flüsterte mir ins Ohr, dass ich selbst jetzt und hier wunderschön sei. Ich war selten so glücklich gewesen, glücklich aus vollem Herzen, wie in diesem Moment. Glücklich, am Leben zu sein, und glücklich, die ungeteilte Bewunderung eines anderen menschlichen Wesens zu haben. Ihr Atem auf meiner Wange war warm, und als sie sich wieder von mir löste, hielten wir unsere Blicke noch eine ganze Weile ineinander verschränkt. Ich streckte die Hand aus, schob eine Haarsträhne, die ihr der Wind über die Lippen gelegt hatte, beiseite und strich sie über ihre Schulter nach hinten. Ich wollte lächeln, um ihr einen Eindruck von den Gefühlen zu geben, die mich bewegten, aber ich glaube nicht, dass ich es tat. Mr Hardie hatte mich an diesem Tag mit einem Blick bedacht, der in mir eine steinerne Kälte zurückgelassen hatte. Ich hatte mich schwer und gleichzeitig völlig leer gefühlt, und während es war, als sehe er geradewegs durch mich hindurch, als bestünde ich nur aus Luft, schien er gleichzeitig mein inneres Wesen bloßzustellen. Ich empfand einen Schrecken, wie ihn die Jungfrau Maria gefühlt haben muss, als der Erzengel Gabriel über sie kam. Hannah schüchterte mich ein, aber nicht halb so viel wie Mr Hardie, und ich war froh bei dem Gedanken, dass sie und ich Freundinnen sein könnten. Eine Matrone namens Mrs Cook brach das Schweigen: »War das nicht Penelope Cumberland in dem anderen Rettungsboot?« Niemand antwortete ihr. Nach einer Weile bestätigte ich, dass ich sie ebenfalls erkannt hatte.
»Wissen Sie noch, wie sie und ihr Ehemann sich ihren Weg an den Tisch des Kapitäns erschlichen haben? Hochnäsigere Leute habe ich nie erlebt! Mrs Cumberland hielt es für unter ihrer Würde, sich mit den übrigen Damen abzugeben, aber solche Leute begreifen nicht, dass auch sie von anderen gut ignoriert werden können. Ich habe die beiden einmal streiten hören, und es sieht ganz so aus,
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