In einem Boot (German Edition)
als sei Mr Cumberlands Vermögen nicht ganz so gefestigt, wie die beiden uns alle glauben machen wollten. Sie sagte zu ihm: ›Aber wir können da nicht sitzen. Ich habe nicht das passende Kleid!‹ Woraufhin er erwiderte: ›Niemand wird darauf achten, was du anhast.‹ Dann sagte sie in scharfem Ton: ›Als ob du wüsstest, worauf die anderen Leute achten!‹, und rauschte davon.«
Ein paar Minuten später beugte sich Mrs Cook zu mir und flüsterte vertraulich: »Natürlich tat sie sehr charmant, wenn wir direkt miteinander sprachen, aber ich weiß genau, was sie dachte. Sie dachte, dass ich nicht am Tisch des Kapitäns saß. Sie dachte, dass eine Gesellschafterin dasselbe ist wie ein Dienstbote und dass ich nur wegen Mrs McCain in der ersten Klasse gelandet bin. Sie dachte, dass Mrs McCain nur deshalb eine Gesellschafterin braucht, weil sie nicht verheiratet ist, und dass eine Frau ohne Ehemann gesellschaftlich unter einer verheirateten Frau steht. Und wie der Kapitän sie anschaute! Da ging etwas Unzüchtiges vor, glauben Sie mir!«
Es erschien mir ungerecht, dass Mrs Cooks gesamte Feindseligkeit den Cumberlands gegenüber auf die zarten, milchweißen Schultern von Penelope Cumberland geladen wurde und dass Mr Cumberland aus irgendeinem Grund ungeschoren davonkam. Ich hatte Penelope als recht angenehm empfunden, ihren Gatten dagegen als Langweiler. Aber mir war klar, dass Ehefrauen ein leichteres Ziel für Verachtung und Spott abgaben. Ich wies darauf hin, dass man nur auf Einladung des Kapitäns an dessen Tisch speisen durfte und dass nur eingeladen wurde, wer gesellschaftlich in den oberen Schichten verkehrte, was sowohl der Einschätzung widersprach, die Cumberlands hätten sich in finanziellen Schwierigkeiten befunden, als auch der Spekulation, dass sie sich unmoralisch verhalten hätten.
»Aber genau das meine ich doch!«, sagte Mrs Cook, die entweder vernünftigen Argumenten nicht zugänglich war oder sich ihre Abneigung partout nicht ausreden lassen wollte. »Sie hatten weder eine besondere gesellschaftliche Stellung noch Vermögen! Ich hörte ihn einmal mit Captain Sutter reden. Ich will nicht behaupten, dass ich jedes Wort verstanden hätte, aber die Aussage war klar, und danach verging kein Tag, an dem sie nicht als Erste in den Speisesaal stolzierten, vor allen anderen, und darauf bestanden, als Erste ihre Plätze einzunehmen. Sie waren doch am Tisch des Kapitäns, nicht wahr, Grace? Haben die Cumberlands jemals erklärt, warum sie auf einmal auch dort saßen?«
»Mir gegenüber nicht, nein, und ich hätte sie auch niemals gefragt. Meiner Erfahrung nach fallen einem immer mindestens fünf Gründe ein, warum etwas so ist und nicht anders, und der eigentliche Grund wird immer der sechste sein.« Ich wusste etwas über die Cumberlands, aber man hatte mich zur Geheimhaltung verpflichtet, und ich sah keinen Grund, die geschwätzige Mrs Cook mit irgendwelchen Informationen zu versorgen.
Der Versuch, Mrs Cook von ihren Spekulationen abzubringen, war etwa so, als wolle man eine Welle mitten in der Bewegung aufhalten. Sie fuhr fort mit ihrer Kategorisierung und ihren Verallgemeinerungen. Sie hielt sich selbst für eine begnadete Geschichtenerzählerin, und die Leute, die in ihrer Nähe saßen, lauschten ihr andächtig. Wenn sie Fragen stellten, erfand Mrs Cook Einzelheiten und stellte Vermutungen an, um ihnen zu gefallen. Jetzt sagte sie: »Leute, die es gewohnt sind, in Geld zu schwimmen, haben fürchterliche Angst davor, dass sich ihre finanzielle Situation eines Tages ändern könnte. Sie und Mr Winter befinden sich in einer sehr angenehmen Position, nicht wahr, Grace? Ist nicht die Vorstellung, dass es anders sein könnte, ein Schreckgespenst für Sie?«
Man hatte mir beigebracht, dass Geldangelegenheiten kein geeignetes Thema für eine Konversation waren, und so erwiderte ich lediglich in bestimmtem Ton, dass Henry sich um die Finanzen in unserer Familie kümmerte und ich mich mit solchen Gedanken nicht beschäftigte.
Mrs Cooks Geschichten waren vertraulicher Natur, erzählt in verschwörerischem Flüsterton all jenen, die in ihrer Nähe saßen und an diesen Anekdoten interessiert waren. Manchmal sprach sie so leise, dass wir uns vorbeugen mussten, um sie zu verstehen. Mr Sinclair andererseits war eine Art Gelehrter und erzählte uns von Dingen, die er gelesen hatte. Er verfügte über eine dröhnende Stimme und hatte oft die Aufmerksamkeit des ganzen Bootes, besonders nachts, wenn der Klang weiter
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