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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
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zu wandern schien als am Tag. Ich weiß nicht, wie wir auf das Thema Erinnerungsvermögen kamen, aber Mr Sinclair erklärte uns, dass sich schon Aristoteles im vierten Jahrhundert vor Christus wissenschaftlich mit der Sache auseinandergesetzt habe. »Aristoteles erkannte, dass die Erinnerung sich nur mit der Vergangenheit beschäftigt, nicht mit der Gegenwart oder der Zukunft«, setzte er an und wurde sogleich von Mr Hoffman unterbrochen, der verächtlich rief: »Das hätte ich Ihnen auch sagen können!« Ich bat Mr Hoffman, still zu sein, damit Mr Sinclair fortfahren konnte.
    »Aristoteles unterschied zwischen ›erinnern‹, was seiner Ansicht nach auch weniger intelligente Menschen beherrschen, und ›entsinnen‹, was nur kluge Leute vermögen.« Ich weiß nicht mehr genau, was er als Nächstes sagte, aber soweit ich ihn verstand, meinte er, dass es keine Erinnerung an Gegenwärtiges geben konnte, sondern nur eine Wahrnehmung unserer Sinne, und dass Erinnerung der wiederholbare Eindruck eines vergangenen Ereignisses war. Sich entsinnen dagegen ist die Suche nach und das Wiederfinden von einer Erinnerung, oder anders gesagt: der Gedächtnisprozess, der dazu führt, dass man eine Erinnerung wiedererlangt, die nicht sofort abrufbar ist. Ich denke oft an dieses Gespräch, denn es bedarf einer ständigen Anstrengung, sich zu entsinnen, um diesen Bericht zu verfassen. Manchmal erinnere ich mich spontan an eine Begebenheit, und manchmal führt eine Erinnerung zu einer anderen, die wieder zu einer anderen führt, und so weiter.
    Ein andermal erzählte uns Mr Sinclair von Sigmund Freud, der die Wissenschaft des Geistes revolutionierte und sich nicht so sehr mit dem Erinnern beschäftigte, sondern eher mit dem Vergessen. Das Vergessen, so sagt Freud, stehe in enger Beziehung zu den Lebenstrieben, wovon der Drang, sich zu reproduzieren, und das Bestreben, dem Tod aus dem Weg zu gehen, uns Menschen am wichtigsten seien. In meinen Augen war Mr Sinclair der bessere Geschichtenerzähler, aber die meisten Frauen zogen Mrs Cook vor.
    Die Nacht war mondlos und die Luft wurde zunehmend drückend und schwül. Mein Hochgefühl vom Abend versickerte allmählich, obwohl gar nichts passiert war, was unsere gute Laune hätte dämpfen können. Lediglich Mr Hardie bemerkte Mr Hoffman gegenüber, dass es noch vor Tagesanbruch anfangen würde zu regnen. Ein leicht hysterisches Kichern pflanzte sich von einem zum anderen fort, während wir uns vorstellten, welches neue Elend der Regen mit sich bringen würde.
    Danach versiegten die Gespräche, und wir blieben allein mit unseren Gedanken und dem melodischen Plätschern des Wassers gegen den Rumpf des Bootes. Erstaunlicherweise fanden wir alle in jenen ersten Nächten Schlaf. Wir begaben uns abwechselnd im Schlafraum zur Ruhe oder legten den Kopf an die Schulter – oder manchmal auch in den Schoß – unseres Nachbarn. Wir erklärten uns dies damit, dass wir erschöpft waren, unter Schock standen – ohne zu ahnen, welches Ausmaß unsere Erschöpfung und der Schock noch annehmen würden. Aber wir waren optimistisch gestimmt und legten uns insgeheim schon die Geschichten zurecht, die wir zu Hause von unserem Abenteuer erzählen würden.
    Irgendwann gegen Mitternacht wurde ich von lauten Rufen geweckt. In der Dunkelheit hörte ich, wie ein Mann behauptete, er habe in der Ferne Lichter gesehen. Doch seine Worte konnten nicht bestätigt werden, und sosehr ich auch meine Augen anstrengte, die Schatten der Nacht zu durchdringen, konnte auch ich nichts dergleichen sehen. Ich schlief wieder ein, und als ich kurz vor dem Morgengrauen erwachte, stand ich auf und wollte zu dem kleinen Waschraum gehen, der an Henrys und meine Kabine angrenzte, ehe ich zu mir kam und wieder wusste, wo ich war. Ich schob einen der Schöpfeimer unter mein Kleid und urinierte hinein, wobei ich mir Mühe gab, meine Kleidung nicht allzu sehr in Unordnung zu bringen und so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Ich grollte den Männern, die ohne Umschweife ihre Hose aufknöpften und einen schaumigen Strahl über die Reling unseres Bootes spritzten. Mit der Zeit hatte ich kaum noch Grund, ihnen diese Fähigkeit zu neiden, denn je weniger Wasser wir zu uns nahmen, desto seltener überkam uns das Bedürfnis, uns zu erleichtern. Neid und Groll verschwanden aber nicht einfach, weder bei mir noch bei den anderen. Sie fanden nur neue Wege, sich Luft zu verschaffen.

Vierter Tag
    Die nächtliche Episode – die irrtümliche oder

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