In einem Boot (German Edition)
zumindest unbestätigte Sichtung von Lichtern – wirkte sich negativ auf uns aus. Wieder lebten die Erzählungen von den letzten Minuten der Zarin Alexandra auf, aber das romantische Gefühl, das uns gestern beim Anblick der überirdisch schönen Sonnenstrahlen und dem inbrünstigen Gesang überkommen hatte, konnte die Enttäuschung der Nacht nicht ausmerzen, und nach und nach machte sich eine bedrückte Stimmung breit. Das mochte auch an dem trüben Tag liegen. Wohin man blickte, vermählte sich der graue Himmel mit dem grauen Meer und ließ den Horizont als verschwommene, diffuse Linie erscheinen. Hardie sagte zu mir: »Jetzt sind die Wolken nicht mehr weiß, Mrs Winter.« Und Maria stand wieder auf und zerrte an ihren Kleidern. »Hinsetzen«, knurrte Hardie, »oder ich lasse Sie fesseln.«
Mrs Grant blickte in die Runde: »Wer hat gestern Nacht die Lichter gesehen?«
»Es war Preston«, sagte Mr Sinclair. »Preston, der dort drüben sitzt.«
»Das ist richtig. Ich habe Lichter gesehen. Ich habe es mir nicht eingebildet.« Mr Preston war ein ernster Mann mit einem runden Gesicht, der immer irgendwie außer Atem wirkte.
»In welcher Richtung?«, fragte Mrs Grant, als würde sie sich nach dem Weg ins Hotel erkundigen. »Können Sie sich noch erinnern?« Mr Preston wirkte ungemein erleichtert und antwortete: »Fünf Strich vom Wind ab.« Mr Hardie hatte uns erklärt, dass man die Gradwinkel eines Kreises oder die Zeiger einer Uhr benutzen konnte, um Gegenstände in Relation zur Windrichtung oder zum Bug des Bootes zu bestimmen. Als Mr Preston uns die Richtung angab, verrenkten wir uns alle die Hälse und blickten nach Steuerbord, als ob wie durch Zauberhand dort etwas auftauchen würde. Mrs Grant hatte eine unbeugsame Ernsthaftigkeit an sich, die sie auf jeden übertrug, mit dem sie sprach, und das Gefühl von Anerkennung und Respekt für seine Aussage war alles, was Mr Preston wollte.
Hardie sagte: »In der letzten Stunde hat der Wind um fünfundvierzig Grad gedreht.« Und er deutete in eine andere Richtung.
»Oh«, sagte Preston kleinlaut und augenscheinlich um seine Glaubwürdigkeit besorgt. »Nun ja, ich bin Buchhalter, kein Seemann, aber Buchhalter sind bekannt für ihre Genauigkeit. Ich habe ein Auge für Details und das Gedächtnis eines Elefanten. Da können Sie jeden fragen, der mich kennt. Wenn ich sage, dass ich Lichter gesehen habe, dann habe ich Lichter gesehen.«
»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Hören Sie mir bitte zu!«, rief Mrs Grant mit einer Stimme, die für niemanden im Boot zu überhören war. Ich war überrascht, dass sie in der Lage war, ihrer Stimme ein solches Volumen zu verleihen; bislang war sie eher auf eine ruhige Art stark gewesen. »Mr Preston hat in dieser Richtung Lichter gesehen.« Sie nickte dorthin, wohin Hardie gedeutet hatte. »Wir müssen die Augen offen halten. Ich schlage vor, dass Sie Wachen einteilen, Mr Hardie. Mir erscheint es am besten, wenn wir Schichten von vier Leuten zusammenstellen, die jeweils für einen Bereich von neunzig Grad verantwortlich sind, und zwar eine Stunde lang.« Sie setzte ihr Vorhaben gleich in die Tat um und bestimmte neun Schichten, wobei sie Mr Hardie selbstverständlich ausnahm, Hannah und sich selbst allerdings auch. Zur Begründung meinte sie, sie beide würden allgemeinere Aufgaben übernehmen und einspringen, wo es notwendig war. Es kam mir so vor, als schmecke es Hardie nicht besonders, von einer Frau herumkommandiert zu werden, denn während sie sprach, lauschte er mit unbewegter Miene.
Mehrere Male an diesem Morgen wurde Mr Hardie gefragt, was er von den Lichtern hielte, aber er wollte sich dazu nicht äußern. Vielleicht fühlte er sich übergangen, weil Mrs Grant die Aufgaben verteilt hatte, ohne ihn zu fragen. »Dauert nicht mehr lang«, war alles, was er zu sagen bereit war, und es blieb unserer Fantasie überlassen, was er damit meinte. Anfangs nahm ich an, er spräche von dem Schiff, das uns die Rettung brachte, aber als ich von einer aufsprühenden Gischt durchnässt wurde, dachte ich, dass er vielleicht den Regen meinte, der in der Luft lag. Erst in den letzten Wochen ist mir klar geworden, dass er von etwas ganz anderem sprach, nämlich von der Rivalität zwischen ihm und Mrs Grant, von einer Autoritätskrise oder von einem Moment der Klarheit, in dem seine Schutzbefohlenen die Wahrheit erkennen und sich demütig unter seine Führerschaft begeben würden. Aber damals gab es keinen Grund, etwas Derartiges zu
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