In einem Boot (German Edition)
Mr Blake derjenige war, über den sich Mr Hardie und der Kapitän gestritten hatten. Sie ließ es sich auch nicht nehmen, eine Bemerkung über ihre Weitsicht einzuflechten: »Ich hatte keinerlei Zweifel, dass sich unsere Wege wieder kreuzen würden.«
Colonel Marsh ergänzte, er habe gesehen, wie ein Offizier Mr Hardie eine Flasche Whiskey weggenommen habe, was Mr Hardie mit einem verächtlichen Schnauben über sich habe ergehen lassen. War dieser Offizier womöglich Blake gewesen? Hatte Blake etwas gegen Hardie in der Hand? Steckten die beiden Männer in irgendeiner dunklen Machenschaft unter einer Decke? Waren sie erbitterte Rivalen? Die Hypothesen machten die Runde im Boot und lockten bei den anderen Insassen eigene Erinnerungen hervor, die zusammengenommen den unumstößlichen Beweis erbrachten, dass Mr Hardie eine finstere und geheimnisvolle Vergangenheit hatte. Die Geschichten über Hardie waren die beliebtesten von allen und diejenigen, über die am meisten gesprochen wurde, aber nur mit äußerster Vorsicht, weil er ja nicht wissen durfte, dass wir über ihn redeten. Jede geflüsterte Enthüllung oder Erfindung wurde mit den anderen Puzzleteilchen zusammengefügt, diskutiert und ausgewertet, gerade so, als könne das daraus entstehende Bild endlich erklären, warum wir einsam und allein auf einem unendlichen Ozean trieben.
Am allerersten Tag erläuterte Mr Preston, der es mit Zahlen sehr genau nahm, Mr Sinclair, dass er sich mit dem Zahlmeister der Zarin Alexandra angefreundet und herausgefunden hatte, dass der Schiffseigner hoch verschuldet war. Mr Preston fragte sich nun, ob das Schiff aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten des Eigners vielleicht irgendwelche Mängel aufgewiesen hatte und die überhastete Abfahrt dazu geführt haben könnte, dass nötige Reparaturarbeiten unerledigt geblieben waren. Dieser Bericht wurde im Laufe der Zeit so weit verändert, dass es schließlich hieß, der Eigner der Zarin Alexandra habe vorsätzlich den Untergang des Schiffes arrangiert, um die Versicherungssumme einzustreichen. Nachdem Mr Hardie erwähnt hatte, dass das Schiff an jemanden verkauft worden war, der an einem »hübschen Profit« interessiert war, kam Mr Preston auf die Bemerkung des Zahlmeisters zurück. Mr Preston verfügte über keinerlei Feinsinn. Er hatte keine Ahnung davon, dass die menschliche Rede über Nuancen und unterschiedliche Töne und Bedeutungen verfügte. Ich habe nie erlebt, dass er diskret den Kopf gesenkt oder mit leiser Stimme gesprochen hätte. Wenn er etwas zu sagen hatte, dann sagte er es geradeheraus, und an diesem Abend wandte er sich lautstark an den Colonel: »Ich dachte, die Zarin Alexandra sei an jemanden verkauft worden, der guten Profit zu machen verstünde. Glauben Sie, Mr Hardie hat sich diese Geschichte über den neuen Eigner nur ausgedacht?« Mr Hardie, der natürlich jedes Wort verstanden hatte, warf Mr Preston den Eimer zu, mit dem er Wasser aus dem Boden des Bootes geschöpft hatte, und knurrte: »So jemand wie ich arbeitet nicht lange für einen geizigen Gauner wie den Kerl, dem die Alexandra gehörte. Ich habe mich für diesen Halunken fast totgeschuftet.« Ob Mr Preston mit dieser Aussage als Beweis zufrieden war, sagte er nicht.
Ich darf nicht zu sehr über die wahren und erfundenen Geschichten und Anekdoten der anderen herziehen, mit denen wir uns die Zeit vertrieben, denn manchmal taten Mary Ann und ich nichts anderes. Ich erzählte ihr von dem Tag, an dem ich Henry begegnete, und schwelgte stundenlang in allen Einzelheiten: was er anhatte, wie er mit seinem schnittigen Automobil vor dem Bürogebäude vorfuhr, in dem er arbeitete, wie er langsam ausstieg und es mir so vorkam, als würde ein prachtvolles Gemälde enthüllt. Dieser Teil meiner Geschichte dauerte etwa zehn Minuten oder noch länger, wenn Mary Ann auf die Idee kam, mich nach Details zu fragen, die ich ausgelassen hatte – was eigentlich immer der Fall war. Ich hatte einen Absatz verloren und humpelte über den Gehsteig, und Henry suchte galant – aber vergeblich – den Rinnstein und die Straße ab. Dann brachte er mich in seinem Wagen nach Hause. »Wie Aschenputtel!«, rief Mary Ann. Dies war eine der seltenen Gelegenheiten im Rettungsboot, bei denen ich lachen musste, denn Mary Ann kam der Wahrheit näher, als sie ahnte. Ich erzählte ihr nicht, dass ich Henry an jenem Tag auf dem Gehsteig vor den Marmorstufen zum Bankhaus nicht zum ersten Mal gesehen hatte, genauso wenig wie Aschenputtel oder
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