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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
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Kreuzzeichen auf ihre Stirn malte, nachdem er seine Hand über das Dollbord in den Ozean getaucht hatte, als wäre er nichts weiter als ein Weihwasserbecken, das praktischerweise gerade zur Hand war. Danach schien Mary Ann ihren Frieden gefunden zu haben. Ein paar Tage später bekam sie den Beweis, dass sie nicht schwanger war.
    Von den zahlreichen Frauen im Boot mussten einige ihre Blutung haben, aber keine von ihnen ließ sich irgendetwas anmerken. Ich fragte mich, ob vielleicht der Schock oder auch die Austrocknung unserer Leiber dafür sorgte, dass die Monatsblutung ausblieb. Jedenfalls wusste ich nicht, was ich sagen sollte, als Mary Ann mich am Ärmel zupfte und mir flüsternd mitteilte, dass sie blutete. Ich ergriff die Gelegenheit und sprach Hannah darauf an, die mir ein paar Tuchfetzen gab, die aus einem alten Unterrock gerissen worden waren und die Mary Ann benutzen konnte. Nachdem Mary Ann versorgt war, nickte ich Hannah dankbar zu, und zum zweiten Mal auf unserer Reise verschränkten sich unsere Blicke länger als nötig. Ihr schiefes Lächeln, das anfangs ein freundliches Entgegenkommen für meine Dankbarkeit zu sein schien, verblasste und wandelte sich zu einem gänzlich anderen Ausdruck, fast so, als ob etwas in meinem Gesicht oder in meinem Rücken sie maßlos überrascht hätte. Mein erster Impuls war, mich umzudrehen und vor dem zu schützen, was hinter mir lauern mochte. Aber ich wollte den Blickkontakt nicht abbrechen, der genauso aufregend wie verstörend war. Am Ende war Hannah diejenige, die zuerst die Augen abwandte, als Mrs Grant sie ansprach und bat, ihr den Beutel mit den Stoffbinden zu reichen.
    In dieser Nacht, unserer fünften im Rettungsboot, kehrten die Männer immer wieder zu der Frage zurück, ob der Schiffseigner die Zarin Alexandra in gutem Zustand gehalten hatte. Mr Preston bestand darauf, dass dies eine Sache von größter Bedeutung war. Er konnte die wenigen anderen einfach nicht begreifen, die der Meinung waren, dass es überhaupt keine Rolle spielte. Zumindest nicht jetzt, wo man nichts unternehmen konnte. In dem Versuch, diesen Standpunkt zu untermauern, forderte Mr Sinclair uns zu einem Gedankenexperiment auf, wie er es nannte. »Mal angenommen«, sagte er, »wir ersetzen das Wort ›Schiff‹ in dieser Diskussion durch das Wort ›Welt‹. Was, wenn die Welt in keinem guten Zustand wäre, wir davon aber nichts wüssten? Wenn wir nicht eine einzige Sekunde lang auf die Idee kämen? Würde es eine Rolle spielen?« Er schwieg einen Moment, um uns Gelegenheit zu geben, darüber nachzudenken. »Und nehmen wir weiter an, dass jemand herausfände, dass die Welt von demjenigen, der dafür verantwortlich ist, bislang tatsächlich schändlich vernachlässigt wurde – würde das irgendetwas ändern? Würde es die Art, wie wir unser Leben auf dieser Erde verbringen, ändern? Mir genügt es vollauf, dass sowohl im Falle der Welt als auch im Falle der Zarin Alexandra nur das Hier und Jetzt zählt, die Situation, mit der wir konfrontiert sind, und dass die unumstößlichen und uns völlig unbekannten Ereignisse, die uns zu dieser Zeit an diesen Ort geführt haben, nicht nur an Wichtigkeit verlieren, sondern ganz und gar keine Bedeutung mehr haben.«
    Isabelle wollte wissen, wer für die Welt verantwortlich sei. Wenn Mr Sinclair von Gott spreche, solle er es offen kundtun. Aber wenn die Menschen dafür verantwortlich seien, dann könnten sie doch ihre Fehler erkennen und etwas daran verändern. Ich schaute instinktiv zum Diakon, in dem festen Glauben, dass er auch etwas dazu zu sagen hatte, aber er starrte düster über den Bootsrand ins Wasser und behielt seine Gedanken für sich. Stattdessen ließ sich Hardie vernehmen: »Es kommt doch nur darauf an, ob man dem Mistkerl in der Zukunft noch begegnet. Wenn ich meinem Schöpfer von Angesicht zu Angesicht gegenübertrete, werde ich mal ein Wörtchen mit ihm reden, wie die Dinge hier auf der Erde so beschaffen sind.«

Sechster Tag
    In jenen ersten Tagen war Hardie für uns eine Art Orakel. Seine Prophezeiungen waren weder besonders blumig noch gab es sie im Überfluss, und daher waren wir anfangs nicht besonders beunruhigt, als seine Voraussagen – wir würden nach kurzer Zeit gerettet, und es würde bald anfangen zu regnen – nicht eintrafen. Allerdings begannen einige Leute, ihn nach Einzelheiten zu löchern: »Kommt der Wind aus West oder Südwest? Ist das ein gutes Zeichen oder nicht?« Oder: »Was sagt man doch gleich über einen

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