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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
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roten Himmel am Abend?« Oder: »Was hat dieser rosa-gelbe Hof um den Mond zu bedeuten?«
    »Es bedeutet, dass sich das Wetter verändert«, antwortete Hardie, und tatsächlich schob sich am sechsten Tag eine Schicht aus zerfetzten Wolken vor den blauen Himmel und riss nur hin und wieder für das wütende Antlitz der Sonne auf. Der Wind, der sich in der Nacht gelegt hatte, war wieder stärker geworden und rührte nun das Meer auf, das nicht länger glasig grün oder kobaltblau war, sondern eine dunkle und unergründliche Farbe angenommen hatte, nicht grau, nicht blau. Kleine Wellen stoben auf und ergossen sich über den Bootsrand, woraufhin Mr Hardie die Blechtassen, die er unter seinem Sitz verwahrte, austeilte und uns befahl, auch damit das Boot auszuschöpfen. Mr Nilssons Warnung, dass auf diese Weise unser Trinkwasser mit Salz versetzt werden könnte, verhallte unbeachtet. Hardie teilte uns bestimmte Aufgaben zu: Zu den fünfen, die das Boot ausschöpften, und den vieren entlang des Dollbords, die nach Schiffen Ausschau halten mussten, wurden zwei weitere ernannt, die das andere Rettungsboot in der Ferne im Auge behalten sollten. Jeweils vier Leute saßen an den Rudern und mussten den Bug des Bootes den Wellen entgegenhalten, damit sie nicht über den Rand ins Boot schwappten. Sechs Frauen sollten das Wasser nach Fischen absuchen, aber die zerfurchte Oberfläche machte es unmöglich, etwas zu erkennen. Einmal schreckte eine dünne Frau namens Joan uns alle auf. »Ich sehe einen!«, rief sie, aber es war nur Mr Hardies Fisch, den er an der Seite des Bootes festgemacht hatte, um das Fleisch im kühlen Wasser aufzubewahren. Nach jeder Stunde rief der Colonel: »Wechseln!«, und wir tauschten die Arbeit oder ruhten uns auf unseren Plätzen aus oder gingen zu zweit oder zu dritt zum Schlafraum, wo die Decken trotz der Segeltuchplane einfach nicht trocken bleiben wollten. Mr Hardie machte eine große Sache aus der Verteilung der Rationen, die mittlerweile stark geschrumpft waren. Wir bekamen nur noch einen Schluck Wasser und ein kleines Stück Fisch oder einen Bissen Zwieback. Zweimal am Tag wurde der Diakon aufgefordert, ein Tischgebet zu sprechen, und an diesem Abend hob Hardie den zweiten Fisch gen Himmel, als wolle er Gottes Segen erflehen.
    Hannah war an diesem Tag schlecht gelaunt. Sie trat Mary Ann gegen den Fuß, als dieser sich an eine Stelle schob, die Hannah als »ihr Territorium« betrachtete. Daraufhin weinte Mary Ann leise in ihren Ärmel. Während des Frühstücks richtete Hannah das Wort an Hardie: »Warum lassen Sie uns hungern, wenn wir doch bald gerettet werden?« Vermutlich war es unvermeidlich, dass wir Hardie die Schuld an unserem Hunger gaben und vielleicht auch an unserem ganzen Leid, aber ich hatte das Gefühl, dass Hannah es bewusst vermied, ihn selbst zu beschuldigen. Stattdessen rief sie ein kollektives Gefühl in den anderen wach, und das offensichtlich nicht ohne Absicht, denn sie schien ein grimmiges Lächeln zu unterdrücken und Mrs Grant zuzunicken, als die anderen ebenfalls anfingen zu murren. Auch ich hatte den Fisch und die Wasserfässer gierig beäugt und mich gefragt, wofür Hardie sie aufsparte.
    Trotz seiner Anweisung, die Plätze nicht ohne seine Erlaubnis zu verlassen, sagte Hannah mit lauter und herausfordernder Stimme: »Na kommen Sie, Mary Ann, hören Sie auf zu heulen. Ich werde meinen Platz mit Ihnen tauschen.« Und damit quetschte sie sich neben Mrs Grant und schob Mary Ann von ihrem Platz. Mary Ann warf Hardie einen Hilfe suchenden Blick zu, aber Hannah starrte ihn mit blitzenden Augen an, als ob sie es auf eine Auseinandersetzung anlegen würde, und er schwieg. Ich glaube, Hardie hat an diesem Tag einen guten Teil seiner Autorität verloren. Er hätte Hannah befehlen sollen, auf ihren ursprünglichen Platz zurückzukehren, aber er tat es nicht. Und dann war es zu spät.
    Ohne seine Unterstützung war Mary Ann nicht in der Lage, sich Hannahs entschlossener Haltung zu widersetzen, und schließlich ging sie zu dem leeren Platz am Dollbord, sodass sie auf der anderen Seite von Mr Preston saß. Dann steckten Hannah und Mrs Grant die Köpfe zusammen, und als die Zeit zum Abendessen gekommen war, murrten die meisten Insassen des Bootes leise vor sich hin.
    Der Wind war im Laufe des Tages stetig stärker geworden, und gerade in dem Moment, als Hannah und zwei weitere Frauen aufstanden und zu Hardie gehen wollten, um ihn aufzufordern, die Rationen zu vergrößern, krachte eine

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