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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
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ihre Stiefschwestern auf dem Ball zum ersten Mal von dem Prinzen hörten, obwohl ich wünschte, dass es so gewesen wäre. Immerhin war es das erste Mal, dass Henrys blaue Augen sich auf mich richteten, und zum anderen war die Geschichte auf diese Weise einfach hübscher. Ich dachte nicht gerne über die Woche nach, in der ich ihn beobachtet hatte, um seine tägliche Routine herauszufinden, oder an den Tag, an dem ich bis zum Abend mit abgebrochenem Absatz gewartet hatte und er nicht aufgetaucht war.
    Mary Ann ihrerseits erzählte mir, welche Einkäufe sie in Paris für ihre Aussteuer getätigt hatte, von ihrem Verlobten Robert, der sie ihrer Jungfräulichkeit in einem entzückenden bewaldeten Tal beraubt hatte, wo Vögel sangen und die Luft süß nach Geißblatt duftete. Es war am Wochenende vor ihrer Abreise nach Europa geschehen. Robert war zu ihrem Landhaus gekommen, um sich von ihr und ihrer Mutter zu verabschieden.
    »Er hat Ihnen nicht Ihre Jungfräulichkeit geraubt!«, rief ich und dachte erst in letzter Sekunde daran, meine Stimme zu senken. »Sie haben sie ihm geschenkt!« Nach kurzem Nachdenken versicherte ich ihr, dass meiner Erfahrung nach Menschen, die anderen etwas schenkten, für gewöhnlich etwas Gleichwertiges oder Wertvolleres zurückbekamen, aber Mary Ann hatte schreckliche Angst davor, dass sie schwanger sein oder nicht mehr die Möglichkeit erhalten könnte, sich von ihrer Sünde reinzuwaschen, falls sie hier auf See sterben sollte, obwohl sie vielleicht den Tod verdiente, sie wüsste es einfach nicht … Sie bat mich um meine Meinung, und ich merkte überrascht, wie sehr sie danach verlangte zu wissen, wo genau die Grenze lag zwischen dem, was Sünde war, und dem, was man vor sich und Gott vertreten konnte, als ob es sich um eine Membran handeln würde, durch die ein Mensch treten, die aber die Sündhaftigkeit nicht durchdringen konnte. Sie gestand, dass ihre Sorge eher praktischer, also weltlicher Natur war und nicht so sehr eine spirituelle Angelegenheit, was in ihren Augen die Sünde noch vervielfältigte und sie in einen ewigen Strudel aus Angst und Reue katapultierte. »Müsste ich nicht allein wegen Gott bereuen?«, fragte sie mich. »Aber ich glaube, ich mache mir mehr Sorgen um mich selbst, denn wie stehe ich denn da, wenn ich bei meiner Hochzeit schwanger bin und nicht mehr in mein Kleid passe? Und was soll ich machen, wenn Robert mich verlässt und ich ein uneheliches Kind zur Welt bringe?«
    Während ich ihr so zuhörte, kam ich zu der Überzeugung, dass Mary Ann nicht viel darüber wusste, wie man schwanger wurde und wie man merkte, ob man es war oder nicht, aber ich tat mein Bestes, um sie zu beruhigen. »Das Hochzeitskleid ist mit dem Schiff untergegangen, nicht wahr? Darüber müssen Sie sich also keine Sorgen mehr machen. Sie müssen sich sowieso ein neues kaufen. Ihnen steht auch noch die Möglichkeit offen, es so zu machen wie Henry und ich: eine schnelle, unkomplizierte Zeremonie, ohne Pomp und irgendwelche Umstände. Nicht dass ich nicht auch gerne ein schönes Kleid und eine große Feier gehabt hätte, aber manchmal obsiegt die Zweckmäßigkeit über die Romantik. Was Ihre zweite Sorge betrifft, so gibt es Leute, die Ihnen bei einem derartigen Problem helfen können, sollte es sich tatsächlich bewahrheiten.« Ich sagte ihr, dass sie sich darüber erst Gedanken machen solle, wenn es so weit war. »Denn Sie haben sowieso keine Alternative.« Aber Mary Ann war nicht gewillt, sich selbst so schnell freizusprechen, und hielt an der Idee fest, dass ihr Leiden in diesem Boot Gottes Strafe für ihre Sünden war.
    »Aber das ergibt doch gar keinen Sinn! Warum sollte Gott auch den Rest von uns bestrafen für etwas, was nur Sie getan haben?« Sie sah mich an, als wollte sie sagen, dass ich diese Frage wohl besser beantworten könne als sie, während ich ihr versuchte klarzumachen, dass ich nicht der Meinung war, sie hätte überhaupt eine Sünde begangen, dass auch Henry und ich vor unserer Eheschließung eine körperliche Beziehung hatten und dass die Vorstellung, etwas Verbotenes zu tun, der ganzen Sache die richtige Würze verliehen hatte. Aber meine Worte konnten mit jahrtausendealten christlichen Dogmen nicht mithalten. Der Mond badete das Boot in ein silbriges Licht, als Mary Ann zu dem kleinen Diakon kroch, ihren Mund an sein Ohr legte und ihm die ganze vermaledeite Geschichte beichtete. Ich sah zu, wie der Diakon ihr schmales Gesicht in seine Hände nahm und mit dem Daumen das

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