Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
Vom Netzwerk:
große Welle über den Rand und durchnässte alle an Backbord. Eine der Frauen, die aufgestanden waren, wurde aus dem Boot geschleudert. Hannah konnte sich gerade noch an Mrs Hewitt festklammern, einer großen, schweigsamen Frau, die jetzt aufschrie und durch die Wucht zu Boden geworfen wurde. Ich hörte jemanden nach Rebecca Frost rufen, einer Angestellten auf der Zarin Alexandra , die bislang unauffällig hinten im Boot gesessen hatte. Ich hatte nie mit Rebecca gesprochen, aber wohl bemerkt, wie sie Hannah bewundernde Blicke zugeworfen und Hannah sie freundlich angelächelt hatte. Jetzt aber trieb Rebecca mit wedelnden Armen hinter dem Boot im Wasser und verschwand dann in einer aufschäumenden Welle. Sie tauchte wieder auf; eine zweite Welle schlug über ihr zusammen, aber wieder kam sie in dem blauschwarzen Wasser hoch. Ich weiß noch, dass ihre angstgeweiteten Augen geradewegs in meine starrten. »Tun Sie doch etwas!«, schrie ich. In ihrer beeidigten Aussage erklärte Hannah, dass sie und Mrs McCain Hardie dazu brachten, in Aktion zu treten, und dass ich lediglich tatenlos zuschaute, was beweist, dass Hannah trotz ihrer gegenteiligen Versicherung nicht immer alles registrierte, was um sie herum geschah.
    Mr Hardie stand achtern im Boot. Hinter ihm wurden die Wolkenränder von einigen Sonnenstrahlen erleuchtet. Das dunkle Wasser umschäumte Rebecca bis zu den Nasenlöchern. Schwarze Haarsträhnen lagen über ihrem Gesicht wie zuckende Aale, und ihre weißen, flehenden Hände krallten sich in die Luft. »Hinsetzen!«, befahl Hardie barsch, und Hannah, die bei ihrem Aufbegehren fast auch aus dem Boot gefallen wäre, setzte sich und war ausnahmsweise einmal still, während ich schrie: »Will ihr denn niemand helfen?« Zwei von den Männern standen auf und schickten sich an, Rebecca den Rettungsring zuzuwerfen. Das Boot bäumte sich durch die plötzliche Gewichtsverlagerung auf, und bei jeder Schaukelbewegung ergoss sich ein Schwall Wasser über den Rand.
    »Schöpfen!«, schrie Hardie. »Wer ist mit Schöpfen dran? Hört auf zu gaffen und macht euch gefälligst an die Arbeit!« Er riss demjenigen, der ihn gehalten hatte, den Rettungsring aus der Hand. Mrs Grant rief: »Sie ist hier drüben!«, und deutete auf Rebecca, die hektisch mit den Händen winkte und deren Versuche, etwas zu sagen, in einem wässrigen Gurgeln endeten. Ihr Kleid wölbte sich rings um sie, die Haube saß noch auf dem Kopf, und während die Rettungsweste ihren Kopf zwar über Wasser hielt, konnte sie die Wellen doch nicht daran hindern, über Rebecca zusammenzuschlagen, oder vermeiden, dass die Strömung sie immer weiter von uns abtrieb. Ihr Gesicht zeigte eher Überraschung als Schrecken, und ich glaubte, sie rufen zu hören: »Hier drüben, Mr Hardie, hier drüben!« Sie klang fast höflich. Sie hatte keinen Zweifel, dass wir sie retten würden, genauso wenig wie wir selbst. Die See war aufgewühlter als je zuvor, und das Wasser im Boot stieg rasch. Hardie verbrachte kostbare Zeit damit, diejenigen, die zum Schöpfen eingeteilt waren, zur Ordnung zu rufen, weil wir alle entweder nach Rebecca schauten oder uns bemühten, nicht von unseren glitschigen Sitzplätzen zu rutschen. Allmählich dämmerte es mir, dass Rebeccas Rettung keineswegs eine beschlossene Sache war.
    Nach einer halben Ewigkeit erst ließ Hardie die Ruderer das Boot zu ihr steuern, und als sie schließlich aus dem Wasser gefischt wurde, hatte ich nicht den Eindruck, dass ihre Rettung etwas Erhabenes oder Heldenhaftes war. Stärker als vorher haftete Hardie nun eine Aura der Allmacht an; er schien die Natur selbst seinem Willen unterwerfen zu können. Aber jetzt waren seine Taten mit einem Hauch Bosheit besudelt. In den folgenden Tagen versuchte ich mich davon zu überzeugen, dass sein Zögern bei Rebeccas Rettung einer ehrlichen Unsicherheit entsprungen war, auf welche Weise diese Rettung angesichts der rauen See, des überfüllten Bootes und der Narren, die aufgesprungen waren, anstatt auf ihren Plätzen zu bleiben, am besten zu bewerkstelligen sei. Gleichzeitig kam mir der Gedanke – und ich bin davon überzeugt, dass Hardie ebenfalls daran dachte –, dass Rebecca möglicherweise das Opfer einer natürlichen Auslese war. Vielleicht war es zu begrüßen, dass sie über Bord gefallen war. Diesem Gedanken folgte die Ahnung, dass Hardie nur den Insassen im Boot verpflichtet war, nicht denjenigen, die sich außerhalb davon befanden, egal, wie sie dort hingekommen waren. Und

Weitere Kostenlose Bücher