In einem Boot (German Edition)
dann, irgendwo in meinem Hinterkopf, entstand eine Idee, sickerte in meine Gedanken wie Wasser in ein ungeteertes Fass, dass Hardie uns womöglich eine Lektion hatte erteilen wollen. Oh, ich wusste, dass mein Schicksal in seinen Händen lag. Das musste er mir nicht erst beweisen.
Ich glaube nicht, dass ich die Einzige war, die so empfand. Eine Stille dehnte sich zwischen uns aus, angespannt und dünn wie ein Seil, und nachdem er Rebecca endlich an Bord gezogen hatte und sie von den Italienerinnen entkleidet und in Decken gewickelt worden war, beobachtete ich, wie hin und wieder einer von uns Hardie mit einem Blick fixierte, in dem Angst lag, gemischt mit Ehrfurcht und Respekt. Der Blick, mit dem Hannah oder Mrs Grant ihn bedachten, war freilich ein ganz anderer. Natürlich mochte es auch am Wind gelegen haben, der wie eine tonnenschwere Last auf uns niederdrückte, oder an unserem Hunger oder an der Tatsache, dass viele von uns mittlerweile durch und durch nass waren. Und natürlich hatten wir mitangesehen, wie Rebecca beinahe ertrunken wäre. Zitternd saßen wir da, wie geprügelte Hunde, als auf einmal Mrs Grant aufstand und vorsichtig, Schritt für Schritt, zu Rebecca ging, um sie zu trösten, während das Boot schaukelte und Mr Hardie die Leute an den Schöpfeimern anschrie und die Italienerinnen in eine Arie aus Geheul ausbrachen und ihre Gesichter theatralisch dem Himmel zuwandten. Währenddessen tupfte Mrs Cook, die, sobald sie keine Geschichten erzählte, seltsam unterwürfig war, völlig sinnlos mit einem nassen Lumpen an Rebeccas klatschnassem Haar herum. Hardie hielt eine Dose Schiffszwieback hoch, auf dass sie gesegnet werde, und der Diakon sprach mit falscher Begeisterung zum wiederholten Male von der Gnade Jesu. Dann verspeisten wir lustlos und schwermütig unser spärliches Brot.
Ich weiß nicht, was Rebecca dachte, wenn sie überhaupt einen Gedanken fasste. Sie kauerte lange in dem Schlafunterschlupf und sagte kein Wort. Irgendwann sprach sie doch: »Wenn nur der kleine Hans hier wäre.« Sie zitterte unter den feuchten Decken. »Wir hätten sowieso keinen Platz für ihn«, brummte Hardie. Er war nicht der Einzige, der wütend zu sein schien. Mr Hoffman und sein Freund Nilsson unterhielten sich leise miteinander und schauten hin und wieder von Rebecca zum Bootsrand, der sich sehr nah an der Wasseroberfläche befand – allerdings nicht merklich näher als die Tage zuvor. Ich wusste genau, dass sie fanden, Hardie hätte eine falsche Entscheidung getroffen, als er Rebecca aus dem Meer zog.
Über Nacht schwächte sich der Wind ab, dafür bildete sich dichter Nebel. Als er sich anderthalb Tage später wieder verzog, war das andere Rettungsboot nicht mehr zu sehen. Ich finde keine Worte, um auszudrücken, wie sehr ich es vermisste. Zu wissen, dass noch andere Menschen da draußen auf dem Meer waren, war nicht dasselbe, wie sie zu sehen und sich gelegentlich so weit zu nähern, dass man ihnen zurufen konnte, selbst wenn wir nicht mehr nahe genug gekommen waren, um noch einmal ihre Gesichter zu erkennen oder zu verstehen, was gesprochen wurde.
Siebter und achter Tag
Während des Nebels hörten wir alle das Dröhnen eines Nebelhorns. Es gab keinen Zweifel. Mrs Grant fragte, ob das andere Rettungsboot möglicherweise einen derartigen Gegenstand bei sich führte, und Hardie sagte: »Möglich wär’s, aber für mich klingt das mehr nach dem Nebelhorn eines Schiffs.«
Alle waren aufgeregt und gleichzeitig verzweifelt wegen der mangelnden Sicht. Wir schrien aus Leibeskräften. Wir schlugen mit den Rudern, den Schöpfeimern und allem, was Lärm machte, gegen die Bootswand, aber am Mittag verstummte das Nebelhorn, und als die Sicht wieder klar war und wir erkannten, dass das zweite Rettungsboot verschwunden war, da schien es, als ob sich auch von unseren Seelen ein schützender Nebel verzogen hätte und wir nun klaren Auges die tiefe Verzweiflung unserer Lage erfassten. Wir alle hatten das Nebelhorn gehört – es gab keine Diskussion darüber, wie etwa bei den Lichtern, die Mr Preston gesehen haben wollte. Nachdem die Situation ausgiebig von allen Seiten beleuchtet worden war, kam Mr Preston zu dem Schluss, dass die Insassen des anderen Rettungsbootes gefunden worden waren und dass die Chance auf unsere eigene Rettung gegen null gingen. Daraufhin meinte Mr Nilsson: »Wenn wir das andere Boot sehen konnten, konnten sie uns auch sehen. Sie würden doch nicht zulassen, dass ein Schiff dieses Gewässer
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