In einem Boot (German Edition)
dass er gebrüllt haben musste, um sich über den Wind und das Flattern des Segels, das wir zum Trocknen über den Bug ausgebreitet hatten, Gehör zu verschaffen: »Wenn wir das Boot nicht leichter machen, sinken wir wie ein verdammter Stein.«
Wir hatten keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Ich betrachtete den Stapel durchweichter Decken, die Wasserfässer und die Dosen mit Schiffszwieback, die Hardie unter seinem Sitz aufbewahrte und hütete wie einen Schatz, und auch die kleinen Bündel mit den persönlichen Gegenständen meiner Begleiter, die ebenfalls unter den Sitzen verstaut waren oder in dem schmutzigen Wasser zwischen uns trieben: Mrs Grants durchnässter Beutel, auf den sie ihre zierlichen Füße gestellt hatte, die Kassette des Colonels, der Teddy des kleinen Charlie. Und ich dachte: Darauf können wir verzichten. Ich hatte noch nicht begriffen, dass wir Wasser, Proviant und Decken brauchten, wenn wir überleben wollten, und die anderen Sachen wogen zusammengenommen vielleicht zwanzig Pfund. Zwanzig Pfund machten in unserem Fall keinen Unterschied zwischen Leben und Tod.
Die anderen hatten wohl die Bedeutung von Hardies Worten begriffen, ehe ich es tat, denn die Fassungslosigkeit schlug wie eine Welle über uns zusammen und ließ uns erschauern wie das Meerwasser, das hin und wieder gegen uns klatschte. Ein dumpfes Murmeln erhob sich. Mein Bein berührte das des Diakons, der sich umgedreht hatte und das Gesicht seinen Schäfchen zuwandte, wie er uns zu nennen pflegte. Es war, als zuckte ein Stromschlag von seinem Körper in meinen, und erst in diesem Moment wurde mir klar, dass Mr Hardie Freiwillige suchte, die bereit waren, sich zu opfern.
»Melden Sie sich doch freiwillig«, sagte Hannah wütend, als ob das steigende Wasser einzig Hardies Problem wäre und nichts mit ihr oder uns anderen zu tun hätte.
»Das Boot ist zu schwer. Es lässt sich nicht manövrieren. Wir können nicht schnell genug schöpfen. Und der Wind weht noch nicht einmal besonders stark. Selbst wenn wir die Sache mit dem Segeln sein lassen, landen wir im Wasser, wenn uns eine heftige Böe erwischt. Und dann sind wir verloren.«
Wir alle schauten aufs Meer hinaus. Ich hatte eine Stunde lang Wasser geschöpft und dabei den Boden des Bootes mit den Augen abgesucht, und so war mir zuerst nicht klar, von welchem Wasser er redete. Ich hatte die ganze Zeit lang eine Pfütze von etwa fünfzehn Zentimetern Tiefe betrachtet, grünlich, aber klar und bestückt mit nassen Lederschuhen unterschiedlichster Machart. Jetzt erkannte ich meinen Irrtum. Das Wasser, das er meinte, war bläulich schwarz und rollte an uns vorbei wie eine endlose Herde von Walen. Das Boot erhob sich hoch auf ihren breiten Rücken und rutschte in den tiefen Tälern dazwischen wieder nach unten.
Über uns jagte der Wind die Wolken über den Himmel. Der Diakon schloss die Augen, faltete die Hände unter dem Kinn und murmelte: »Und ob ich schon wanderte im finstren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.« Ich zitterte, und zum ersten Mal seit dem Tag des Schiffsuntergangs hatte ich wirklich Angst. Wir waren verloren. Das wusste ich mit Sicherheit, oder zumindest war ich mir fast sicher, aber trotzdem schaute ich noch zu Hardie und wartete auf seinen Rat, seine Führung. Er saß da im hinteren Teil des Bootes und betrachtete uns unverwandt, wartete geduldig darauf, dass wir unsere Lage begriffen und auf irgendeine Art und Weise auf seine Aufforderung reagierten.
Der Diakon war der Erste, der es wagte, aber er wollte nur Zeit erkaufen: »Was meinen Sie damit? Drücken Sie sich bitte deutlich aus. Wenn wir wissen, welche Möglichkeiten wir haben, können wir gewiss eine vernünftige Entscheidung treffen.«
»Ich denke, Sie wissen Bescheid«, antwortete Hardie. »Wenn das Wetter noch schlimmer wird, läuft das Wasser immer schneller übers Dollbord, schneller, als wir es ausschöpfen können. Wenn das Wasser diesen Punkt erreicht, sinkt das Boot in weniger als einer Minute.« Er tippte nur wenige Zentimeter über dem aktuellen Wasserstand im Boot an die Seitenwand. Natürlich war dies reine Spekulation, aber was immer Hardie auch sagte, nahm ich für bare Münze.
Wenn ich jetzt darüber schreibe, klingt es, als hätten wir uns ganz normal unterhalten, wie in einem Salon bei Tee und Gebäck, aber in Wahrheit mussten meine Gefährten und ich schreien, um gehört zu werden, denn die sich überschlagenden Wellen und
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