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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
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optimalen Zeit auf die Welt kämen. Ich dachte an meine Mutter, die ihre Chance, von einem schnittigen Reitersmann aufs Pferd gezogen und entführt zu werden, um etliche Hundert Jahre und mindestens einen Kontinent verpasst hatte. Kurz nach diesem Gespräch waren wir wieder verabredet, aber er tauchte nicht auf. Und sosehr ich mich auch bemühte, eine andere Erklärung zu finden, so hatte ich doch den Verdacht, dass er mit seiner Verlobten zusammengekommen war. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht!«, rief ich und warf mich in seine Arme, als er am nächsten Tag zu mir kam. »Mir ist klar, dass es wichtig gewesen sein muss, ansonsten wärst du gekommen.«
    »Es war wichtig«, sagte er grimmig. Den ganzen Abend lang war er bedrückt und schweigsam, und egal, was ich zu ihm sagte, er schien mir gar nicht zuzuhören. Er erklärte mir, dass er eine Weile nicht in der Stadt sein würde und mich nach seiner Rückkehr wieder besuchen käme, aber schon drei Tage später stand er auf meiner Türschwelle. Er sah abgezehrt und krank aus. Ich war überglücklich, ihn zu sehen. Meine Zukunft als Gouvernante begann schon, Gestalt anzunehmen – mittlerweile standen konkrete Namen und Einstellungstermine im Raum –, und ich sah die Flut an Möglichkeiten in dem fauligen Sumpf eines Lebens als Angestellte versickern.
    »Ich war nicht ehrlich zu dir!«, brach es aus Henry heraus, nachdem ich meinen Schal geholt hatte und wir nach draußen gegangen waren, um unter uns zu sein – sofern das in der armseligen und belebten Gegend, in der meine Mutter und ich nun wohnten, überhaupt möglich war. Schmutzige Kinder spielten im Hof und stießen einander an, um sich gegenseitig zu ermuntern, Henry um Geld anzubetteln, aber Henry, der für gewöhnlich fröhlich und großzügig war, achtete gar nicht auf sie.
    »Du hattest gewiss deine Gründe«, sagte ich zu ihm, aber die Tatsache, dass ich ihm bedingungslos vertraute und es mich nicht kümmerte, ob er ehrlich zu mir war oder nicht, ließ die Qual in seinen Augen nur noch größer werden. Er sank in dem heruntergekommenen Hinterhof vor mir auf die Knie und schwor mir, dass er sich nicht vom Fleck rühren würde, ehe ich nicht eingewilligt hätte, seine Frau zu werden. Ich zupfte an seiner Jacke und sagte: »Natürlich werde ich dich heiraten!«, aber auch das schien nicht die Antwort zu sein, die er hören wollte, denn er blieb vor mir knien, bis ich hervorstieß: »Henry! Was ist denn bloß los?« Ich bekam es mit der Angst zu tun, dass etwas mit ihm nicht stimmte, dass er krank war oder womöglich sterben würde und dass er befürchtete, mir das Versprechen, ihn zu heiraten, unter falschen Voraussetzungen abgerungen zu haben – ein Fehler, den er nun wieder zu korrigieren wünschte.
    Schließlich wusste ich mir keinen anderen Rat mehr und sank ebenfalls auf die Knie. Da hockten wir also in Schmutz und Unrat, umringt von neugierigen Kindern, die uns nun überragten. Ermutigt von unserer geschrumpften Größe rückten sie näher und scharrten mit den Schuhen im Dreck. Zu gerne hätten sie Henry um die Münzen gebracht, die in seinen Taschen steckten, aber die Aura, die uns umgab – stark wie das Magnetfeld der Erde –, ließ sie zögern. Außerdem hatten sie vermutlich noch nie erlebt, dass sich erwachsene Menschen so benahmen.
    Henrys Augen waren dunkel geworden. Heute würde ich sie mit der Farbe des Meeres vergleichen, wenn die Wolken hoch am Himmel stehen, aber damals kam mir dieses Bild natürlich noch nicht in den Sinn. Mein Kopf war leer, und ich hatte Angst. Ich konnte mir nicht vorstellen, was meinen hübschen und weltgewandten Liebsten auf die Knie gezwungen hatte, noch dazu auf einem Hof, dessen Boden nicht aus reicher, fruchtbarer Erde bestand, gehegt und gepflegt von Generationen von Gärtnern auf einem herrschaftlichen Landsitz, sondern aus einer Mischung aus Pferdeäpfeln und Abwaschwasser, Stiefeldreck und Küchenabfällen, die nicht einmal ein Landstreicher mehr hätte haben wollen. Doch dann blitzte die Erkenntnis auf, sprang wie ein Feuer von Henrys Augen zu meinen eigenen über. Plötzlich wusste ich, was Henry dazu bewogen hatte, in diesem verdreckten Hof auf die Knie zu gehen: ich. Ich war der Grund.
    Ich streckte die Arme aus, jetzt ohne Furcht, aber noch unsicher, was ich mit meiner Macht anstellen sollte, und erklärte: »Ich habe meine einzige wahre Liebe gefunden.« Ich nahm seine heißen Hände in meine kühlen und versicherte ihm, dass es mir egal sei, ob er

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