In einem Boot (German Edition)
der Wind veranstalteten ein ungeheures Getöse. Mehrere Leute brüllten durcheinander. Ihre Worte wurden vom Wind weggerissen, sodass sie keinerlei Sinn ergaben.
»Wenn wir nicht gerettet werden«, wandte der Diakon verzweifelt ein. »Sie sagten doch selbst, dass man uns finden würde.«
»Ich weiß, was ich gesagt habe, aber sie haben uns noch nicht gefunden, richtig?« Hardie schwieg kurz und fuhr dann fort: »Ich bin sicher, dass das ein Nebelhorn von einem großen Schiff war. Wenn es mit dem anderen Rettungsboot zusammengestoßen ist – und ich sage nicht, dass es so war –, dann hätten die Leute an Bord des Schiffs überhaupt nichts davon gemerkt. Es wäre etwa so gewesen, wie wenn wir über einen Zweig oder ein Streichholz fahren. Und wenn durch ein Wunder oder durch viel Glück das andere Boot entdeckt wurde und die Leute in Sicherheit sind, wenn sie versucht haben, uns zu finden, dann ist es eine Tatsache, dass es ihnen nicht gelungen ist.«
Im Boot herrschte Stille, gleich darauf gefolgt von zornigem Gemurmel. Mein Herz wurde schwer vor Enttäuschung. Ich fühlte mich an der Nase herumgeführt, obwohl auch mir klar war, dass Hardie sich bereit erklärt hatte, das Segel zu setzen, weil seine Hoffnung auf Rettung geschwunden oder sogar ganz erloschen war. In diesem Moment hasste ich Hardie, aber ich liebte ihn auch – auf jeden Fall brauchte ich ihn, und ich wollte, dass er es wusste. Um ihm zu gefallen oder wenigstens um ihn wissen zu lassen, dass ich da war, rief ich laut: »Wir sollten Mr Hardie keine Vorwürfe machen, weil er uns die Wahrheit gesagt hat!« Und zu meiner Erleichterung legte sich das Murren. Ich bin sicher, dass Hardie mich mit einem anerkennenden Blick bedachte, und meine Stimmung hob sich merklich. Ich suchte die Augen des armen kleinen Diakons und fühlte eine scharlachrote Blume des Triumphs in meiner Brust erblühen. »Dein Stecken und Stab trösten mich«, sagte ich. Der Diakon lächelte schwach, genauso wie Mrs Cook, die kurz aus ihrer Schwermut erwachte und mir die Hand tätschelte.
Hardie sagte: »Selbst wenn der Wind sich legt und wir das Boot ausschöpfen können, haben wir nur noch wenig von dem Fisch übrig und nur ein paar Tropfen Wasser. Ohne Wasser halten wir keine sechs Tage durch.«
»Sechs Tage! In sechs Tagen kann viel passieren!«, rief der Diakon mit einem Aufflackern seines alten Feuers. »Die Welt wurde in sechs Tagen erschaffen!«
»Ich sage ja nur, dass wir darüber nachdenken sollten!«, schrie Hardie. Dann befahl er einen Schichtwechsel. Er wies Mr Nilsson an, für ihn das Steuer zu übernehmen und den Bug in den Wind zu halten, während er selbst wie ein Wilder das stille grüne Wasser aus dem Boden des Bootes über den Rand zurück zu seinem aufrührerischen schwarzen Gefährten warf. Noch sieben Mal fand ein Schichtwechsel statt. Sieben Stunden vergingen, während derer mir jede einzelne Sekunde überdeutlich bewusst war, jeder Biss des Windes in meinem Gesicht, jeder Moment angstvoller Erwartung, jedes kleinste Detail der trostlosen Szenerie. Und doch verging im Rückblick betrachtet die Zeit wie im Flug. Welle um Welle krachte über den Bug des Bootes und machte in einem einzigen Augenblick unsere mühselige Arbeit zunichte. Trotzdem gab Hardie nicht auf, weigerte sich, seinen Schöpfeimer weniger fähigen Händen zu überlassen.
Ich wurde von einer übermächtigen Mattigkeit gepackt, von einer so gewaltigen Resignation, dass es mir völlig gleichgültig war, welche Richtung unsere Zukunft einschlagen würde. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich Mr Hardie mein Leben anvertraute, oder an der Gewissheit, dass ich im Falle meines Todes mit ihm zusammen sterben würde. Was immer kommen mag, lass es kommen, dachte ich. Aber die anderen wollten sich nicht so einfach in ihr Schicksal fügen. Mrs Grant stieg vorsichtig in die Mitte des Bootes und hielt eine Rede über die menschliche Willenskraft, die den Diakon zu einem Vortrag über den göttlichen Willen inspirierte, und sogar die kleine Mary Ann hörte für kurze Zeit mit dem Jammern und Weinen auf und beschuldigte Mr Hoffman in einem kurzen, aber umso wütenderen Ausbruch des Mangels an Glauben, wo wir doch in unserer Situation nichts nötiger hätten als Gottesfurcht.
Irgendwann an diesem Abend schlief ich ein, obwohl ich es nicht für möglich gehalten hätte. Ich hatte das Gefühl, nur wenige Minuten geschlafen zu haben, als ich von Mary Ann wachgerüttelt wurde. Sie zitterte am ganzen Leib.
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