In einem Boot (German Edition)
mich angelogen hatte, wenn er nur einen guten Grund dafür gehabt hatte. »Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, leichtherzig belogen zu werden«, sagte ich und erwartete, dass er mich anlächeln würde, aber Henry bot ein Bild des Jammers. Er sah dünn und ausgezehrt aus, ganz und gar nicht der selbstsichere Bankier, als den ich ihn mir immer vorgestellt hatte.
»Ich habe dich zweimal angelogen«, gestand Henry. »Ich habe die Stadt nicht verlassen, aber das ist mein geringstes Vergehen. Viel schlimmer ist, dass ich bereits verlobt bin und diese Verlobung nicht gelöst habe. Ich wollte es, aber als ich dorthin kam …«
Natürlich wusste ich, dass er verlobt war, aber es von seinen blassen Lippen zu hören, war, als würde er mir etwas völlig Neues eröffnen. »Aber wie kannst du mich dann fragen …«, setzte ich an. »Wie könnte ich …« Ich war wie gelähmt, wusste nicht einmal, wer in meinem Satz das Subjekt und wer das Objekt sein sollte. Hatte er mir etwas Schreckliches angetan oder ich ihm? Und jetzt, da er gebeichtet hatte, musste ich ihm nicht auch meine Charade gestehen? Ich wollte es. Ich wollte mich vor ihm in den Staub werfen und seine Verzeihung erflehen, denn mir wurde mit einem Mal klar, dass ich zwar anfangs Henrys gesellschaftliche Stellung geliebt hatte, jetzt aber Henry selbst viel mehr liebte. Ich gab mich nicht mit der Frage ab, ob mir Henry ohne sein Vermögen ebenso viel bedeuten würde, obwohl mir der Gedanke flüchtig in den Sinn kam – nicht aus irgendwelchen selbstsüchtigen Gründen, sondern weil man in Bezug auf mich die gleiche Frage stellen konnte: Wäre ich in Henrys Augen dieselbe Grace, wenn ein Aspekt meines Lebens – egal welcher – plötzlich nicht mehr da wäre?
Aber all das zog mir nur kurz durch den Sinn, denn mir war eines klar: Henry brauchte etwas von mir. Er brauchte meine Stärke. Ich musste stark sein. Ich dachte daran, was mit meiner Familie geschehen war, als erst mein Vater und dann meine Mutter zusammengebrochen waren, als keiner von beiden sich aufraffen konnte, um für sich, ihr Zuhause oder ihre Kinder zu kämpfen. Wir alle mussten für diese Feigheit bezahlen. Es war egoistisch von ihnen gewesen, klein beizugeben, und ich würde nicht so handeln, weder an Henry noch an mir selbst.
Ich sagte Henry, dass ich ihn immer lieben würde, dass ich mit ihm über eine Heirat sprechen wollte, wenn er bei Kräften war, weil ich mir durch seine Schwäche oder seine Krankheit oder was auch immer seinen momentanen Zustand erklären mochte, keinen Vorteil verschaffen wollte. Ich schickte ihn mit einem Kuss und dem Versprechen nach Hause, dass ich zu ihm halten würde, weil ich wusste, dass auch er zu mir hielt. »Jede Entscheidung, die dich betrifft, musst du aus freien Stücken fällen«, sagte ich zu ihm. »Ich werde dir helfen, aber ich werde nicht versuchen, dich zu beeinflussen.« Ich zitterte vor Anstrengung, mich an meine Worte zu halten. Mir war klar, dass ich meinen praktischen Verstand nicht über Bord werfen durfte, selbst in diesem Moment glühender Leidenschaft nicht, aber daneben hatte ich keine Ahnung, was tatsächlich in Henrys gequältem Geist vorging.
Als er fort war, ging ich hinauf in meine kleine Dachkammer und setzte ein Antwortschreiben an meinen zukünftigen Arbeitgeber auf, in dem ich anbot, dass ich nächste Woche in Baltimore eintreffen könne. Ich hatte mir noch keine Zugverbindung herausgesucht oder andere Vorbereitungen getroffen, aber wo ein Wille war, war vermutlich auch ein Weg. Währenddessen musste ich immer an meine Schwester in Chicago denken, die sich dort mit der Erziehung fremder Kinder abkämpfte, und war in einem Moment sicher, dass ich es ebenfalls könnte, und im nächsten wieder nicht. Ich adressierte den Umschlag und steckte ihn mit einem hastig gesprochenen Gebet in die große Bibel, die nicht einmal meine Mutter mehr aufschlug. Und dort liegt der Brief wohl noch heute.
Als Henry am nächsten Nachmittag bei mir auftauchte, sah er wieder fast so aus wie er selbst. Ich blieb distanziert, weil ich mir nicht zu große Hoffnungen machen wollte. Andererseits wollte ich ihn auch nicht völlig vom Haken lassen und ihm das Gefühl geben, er könnte sich aus dem Versprechen stehlen, das wir einander gegeben hatten. Gleichzeitig bekam ich es mit der Angst zu tun, dass ich die Situation falsch verstanden haben könnte und dass Henrys Interesse an mir lediglich das Ergebnis einer inneren Unruhe oder Orientierungslosigkeit
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