In einem Boot (German Edition)
ganz unterschiedlich, je nachdem, mit wem sie es zu tun hatte, und sie hatte noch kein einziges Mal den Versuch gemacht, mich zu trösten.
Ich will offen und ehrlich sein. Ich fühle ein schmerzhaftes Ziehen im Herzen, wenn ich an Mary Ann denke. Sie war zart und wunderschön. Ihr Verlobungsring rutschte haltlos an ihrem dünnen Finger herum. Die indigoblauen Adern auf ihrem Handgelenk wirkten wie eine zierliche Kalligrafie auf dem weißen Pergament ihrer Haut. Unter anderen Umständen wären wir gute Freundinnen geworden, aber dort im Boot hatte ich keine Sympathie für sie übrig. Sie war schwach, unfähig zu überleben und nutzlos für das Wohl von uns anderen.
Ich glaube, Hannah und Mrs Grant dachten ähnlich, denn später sah ich sie zusammen am Dollbord sitzen und die Köpfe zusammenstecken. Mit ernsten Gesichtern schauten sie hin und wieder zu Mary Ann. Ich hatte keine Ahnung, worum sich ihr Gespräch drehte, ich erhaschte bloß geflüsterte Worte wie »die Schwächsten« und »Strategie«. Aber über Sinn und Bedeutung dieser Worte kann ich nicht einmal spekulieren. Selbst heute, da ich in der Lage bin, auf die Ereignisse, die noch folgten, zurückzublicken und alles in ihrem Licht zu betrachten, weiß ich immer noch nicht, was diese Worte besagen sollten.
Dies war unser erster Tag ohne Nahrung. Kein Krümel Zwieback, kein Stückchen Fisch waren übrig geblieben, und als Hardie die Wasserrationen ausgab, gab es für jeden kaum mehr als einen Schluck Wasser aus der Blechtasse. Mrs McCain wunderte sich darüber und fragte, ob uns das Wasser ausgegangen sei, was Hardie verneinte. Er versicherte uns auch, das Boot sei nicht leck, sondern der steigende Wasserspiegel im Boden sei das Resultat der Wellen, die über die Seiten ins Boot schwappten. Ich wollte ihm so gerne glauben, aber es gelang mir nicht. Wieder hatte ich den Verdacht, dass er bestimmte Dinge nur sagte, um eine Panik zu verhindern, und trotz der Tatsache, dass seine Absicht edler Natur war, gefiel es mir überhaupt nicht, belogen zu werden. Der einzige Streit, den Henry und ich je hatten, drehte sich um den Umstand, dass er mich hatte glauben lassen, seine Familie wüsste über mich Bescheid. »Du weißt am besten, wie du mit deiner Familie umgehen musst«, hatte ich ihm gesagt, als wir uns entschlossen zu heiraten, aber nachdem sein Ring an meinem Finger steckte, wollte ich wissen, woran ich war, und schließlich kam es zu dieser Auseinandersetzung. In dem offenen Boot auf dem endlos weiten Ozean hatte ich ein ähnliches Verlangen: Ich wollte wissen, wo wir standen und was genau wir tun konnten, um unsere Situation zu verbessern, obwohl zu befürchten steht, dass Mr Hardie über unsere Situation oder geeignete Maßnahmen genauso viel oder wenig wusste wie wir anderen. Er hatte begründete Ahnungen, was mehr war, als ich zustande bringen konnte. Und doch machten ich und andere ihn für alles verantwortlich, als ob er die Dinge durchschauen und uns die Wahrheit vorenthalten würde – aus einer Laune heraus oder als Strafe für unsere Sünden.
Merkwürdigerweise mochte ich das Ausschöpfen. Die Arbeit gab mir das Gefühl, nützlich zu sein. Oder vielleicht war es auch nur das weibliche Verlangen, meine Umgebung in Ordnung zu bringen. Es gab mir etwas zu tun, was mich von dem Anblick des schreckenerregenden schwarzen und leeren Ozeans ablenkte. Während ich schöpfte, suchte ich den Boden des Bootes nach dem Leck ab, das irgendwo sein musste, aber ich fand es nicht. Manchmal bildete ich mir ein, ich würde das Haus putzen und aufräumen, in dem Henry und ich eines Tages leben würden, ein Haus, das in meiner Fantasie mit dem Winterpalast verschmolz. Ich hatte es in meinem Kopf gebaut und ausgestattet. Ich stellte mir ein sonnendurchflutetes Wohnzimmer vor, gekrönt von der Louis-XV-Chaiselongue meiner Großmutter, die wohl mein Hochzeitsgeschenk gewesen wäre, wenn sie nicht vorher bei unserem Umzug hätte verkauft werden müssen. Henry mochte Blau, und so malte ich die Wände des Zimmers in einem zarten Veilchenblau – blau genug, um Henry zu erfreuen, aber nicht zu maskulin oder zu kalt. Henry hatte mich darauf vorbereitet, dass wir von seiner Mutter kein Hochzeitsgeschenk zu erwarten hätten, denn sie war mit unserer Verbindung nicht einverstanden. Ich aber war davon überzeugt, dass ich sie mit der Zeit für mich gewinnen würde.
Anya Robeson weigerte sich zu schöpfen. Sie war von jeglicher Art von Arbeit befreit. Sie wollte den kleinen
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