In einem Boot (German Edition)
nicht daran erinnern, dass wir das Segel nicht setzen konnten, weil das Boot überfüllt war. Und so endete ein Tag, der so optimistisch verlaufen war, mit einer bitteren Note.
Nacht
Die Nächte waren kalt, und je abgezehrter wir wurden, desto weniger Wärme konnten unsere Körper speichern. Wenn ich mir die anderen betrachtete, so entsetzte mich der Anblick der eingesunkenen Augen und hohlen Wangen. Der Wandel war langsam vonstattengegangen, aber im versickernden Licht sah ich Lippen, die so trocken waren, dass sie jeden Moment aufplatzen konnten, Augen mit glasigem und leerem Blick, Kleider, die lose um unnatürlich abgemagerte Glieder hingen. An Mr Hoffmans Haaransatz befand sich ein Streifen getrockneten Bluts, wo ihn der Griff eines Ruders getroffen hatte, aber es schien ihm nicht bewusst zu sein. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass die letzten Tage auch an meinem Äußeren eine Spur der Verwüstung hinterlassen hatten, aber vor meinem geistigen Auge sah ich noch genauso aus wie an jenem Morgen auf dem Schiff, als Henry mir zuschaute, wie ich vor dem Spiegel meine Haare hochsteckte. Es gab keine Geschichten mehr zu erzählen, und nur noch ein gelegentliches Seufzen oder das bellende Husten von Mrs Cook, das gestern eingesetzt hatte und seitdem stetig schlimmer geworden war, unterbrachen die Stille. Wir hatten uns in unsere Erinnerungswelt zurückgezogen, um der bitteren Realität zu entgehen.
Je näher die Zarin Alexandra New York kam, desto unruhiger war Henry geworden. Das konnte mir nicht entgehen. Er und Mr Cumberland suchten immer öfter die Gesellschaft des jeweils anderen, und ich vermutete, dass es etwas mit den Geschäften zu tun hatte, von denen Henry mir erzählt hatte, denn sie erwähnten oft ihre »besondere Verantwortung«. Als ich nun sein Antlitz im Spiegel betrachtete, hielt ich die Blässe dort für Müdigkeit, weil er in der Nacht zuvor lange aufgeblieben war, um sich mit einem Mann zu unterhalten, mit dem er gesellschaftlich verkehrte. Er hatte recht viel getrunken. Erst später, als er meine Hand nahm und mich in eine windgeschützte Ecke des Decks zog, wo wir ungestört die Wärme der Sonne genießen konnten, begriff ich den Grund für seine Nervosität. »Ich habe zahlreiche Entwürfe für ein Telegramm an meine Eltern verfasst«, sagte er, was zuerst meine Neugier erweckte und dann den Verdacht, dass er seine Eltern bislang noch nicht über unsere Heirat informiert hatte.
Anfangs war ich verärgert, weil wir schon so oft über die Sache gesprochen hatten und er mir immer wieder versichert hatte, er habe sich darum gekümmert. Ich wollte auch auf unserer Hochzeitsreise nicht über Probleme reden. Wir sollten fröhlich lachen und uns über Nichtigkeiten wundern, etwa warum Mrs Forester immer so aussah, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, oder wie ernst und unbehaglich Mr Cumberland in seiner neuen Rolle als wohlhabender Bankier wirkte, oder wir sollten in entzücktem Schweigen schwelgen, während wir einander tief in die Augen sahen oder bedeutsame Eigenschaften des jeweils anderen entdecken, Eigenschaften, über die wir nachdenken und auf denen wir das Fundament für unser gegenseitiges Vertrauen errichten würden. Ich wollte gerade sagen, dass ich gedacht hatte, die Sache wäre erledigt, aber Henry legte den Finger an seine Lippen, bis ein überschwänglich lachendes Paar, das an Deck gekommen war, uns passiert hatte.
Als wir allein waren, sagte Henry: »Ich habe heute Morgen ein Telegramm von meiner Mutter bekommen. Sie holt mich ab, wenn wir angekommen sind. Mit Felicity.«
»Aber das kann sie doch nicht machen!«, rief ich. Mein Herz wurde kalt, als ich mir bewusst machte, was Henry mir wirklich damit sagen wollte. »Sie denkt, dass Felicity dich zurückgewinnen kann!«, sagte ich, und meine Stimme brach fast vor Zorn und Traurigkeit, denn die einzige Erklärung, warum seine Mutter zu solch einem Mittel greifen sollte, war die, dass sie ihren Sohn noch immer unverheiratet wähnte.
Einen Moment lang standen wir schweigend da, während sich der Ozean rechts und links von uns ausbreitete. Auf der einen Seite lag Europa, wo ich so glücklich gewesen war, und auf der anderen New York, wo mich eine ungewisse Zukunft erwartete. »Du hast es zu lange hinausgeschoben«, sagte ich. »Das ist nicht fair, weder Felicity noch deiner Mutter gegenüber. Und mir gegenüber auch nicht.«
Henry sah aus wie ein gescholtener Schuljunge und konnte nichts anderes tun, als mir
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