In einer anderen Welt (German Edition)
sterbenden Bäume sind sehr traurig. Ich habe die Bibliothekarin gefragt, und sie hat mir eine alte Ausgabe des New Scientist gegeben, also habe ich alles ganz genau nachgelesen. Die Pilze sind mit einer Ladung Baumstämme aus Amerika eingeschleppt worden. Das klingt, als müsste man dagegen etwas tun können. Alle Ulmen sind eine Ulme, sie sind Klone, deshalb erwischt es sie auch alle. Die Population entwickelt keine natürliche Resistenz, weil es keine Variation gibt. Auch Zwillinge sind Klone. Wenn man sich eine Ulme anschaut, würde man nie glauben, dass sie ein Teil von allen anderen ist. Man sieht eben eine Ulme. Wenn die Leute mich jetzt anschauen, ist es das Gleiche: Sie sehen einen Menschen, nicht die Hälfte eines Zwillingspaars.
Mittwoch, 19. September 1979
Nach den Hausaufgaben und vor dem Abendessen haben wir eine halbe Stunde frei. Gestern regnete es nicht, also bin ich in der Abenddämmerung noch etwas spazieren gegangen, und zwar bis zur Umgrenzung hinunter, dem Rand des Schulgeländes. Dort ist ein Feld, auf dem schwarzweiße Kühe grasen. Sie glotzten mich apathisch an. Ansonsten gibt es da noch einen Graben und ein paar vereinzelte Bäume. Wenn es hier überhaupt Feen gibt, dann dort. Es war kühl und feucht. Der Himmel verlor ohne erkennbaren Sonnenuntergang an Farbe.
Es ist schon schwer genug, mit Feen Kontakt aufzunehmen, wenn man weiß, wo sie sich aufhalten. Feen sind wie Pilze – wenn man nicht an sie denkt, stolpert man über sie, aber wenn man sie sucht, sind sie nirgendwo. Ich hatte meinen Schlüsselring nicht dabei, und alles, was ich anhatte, war neu und ohne jede Bindung, also konnte ich nichts davon verwenden. Aber mein Stock war alt und aus Holz, vielleicht klappte es ja damit. Ich versuchte, an Ulmen zu denken und daran, dass sie Hilfe brauchten. Allmählich entspannte ich mich ein wenig.
Ich schloss die Augen und stützte mich auf meinen Stock. Dabei bemühte ich mich, die Schmerzen zu ignorieren, genauso wie die gähnende Leere, wo Mor hätte sein müssen. Der Schmerz ist schwer zu verdrängen, aber ich wusste, dass er sie verjagen würde wie nichts sonst. Als ich mir irgendwo hinter Camelot einmal die Hand verletzt habe, sind sie wie erschrockene Schafe auseinandergestoben, daran erinnere ich mich noch gut. Der Schmerz in meinem Bein besteht aus zwei Teilen, einem heftigen Ziehen und einem langsamen Mahlen. Wenn ich reglos und aufrecht dastehe, lässt das Mahlen etwas nach, und das Ziehen meldet sich erst wieder, wenn ich das Gewicht verlagere. Also konzentrierte ich mich, und schließlich gelang es mir. Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zu rufen, was wir getan hatten, wenn wir mit ihnen spielen wollten. Ich öffnete meinen Geist. Nichts geschah. »Guten Tag?«, sagte ich leise auf Walisisch. Aber vielleicht sprechen die Feen in England ja englisch? Oder vielleicht gibt es hier gar keine Feen. In einer solchen Landschaft ist nicht viel Platz für sie. Ich öffnete wieder die Augen. Die Kühe waren davongestapft. Zeit zum Melken also. Auf der der Schule zugewandten Seite des Grabens wuchsen ein Busch, eine kleine verkrüppelte Eberesche und ein Haselnussstrauch. Ich legte die Hand auf die Rinde der Esche, allerdings ohne große Hoffnung.
Auf einem der Äste saß eine Fee. Sie musterte mich argwöhnisch. Nicht zum ersten Mal fiel mir auf, wie sehr Feen Pflanzen ähneln. Menschen und Tiere folgen einem ganz bestimmten Schema: zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf – ein Mensch. Oder vier Beine plus Wolle – ein Schaf. Pflanzen und Feen dagegen ... klar, man sieht ihnen schon an, was sie sind, aber ein Baum kann beliebig viele Äste haben, die überall herauswachsen. Es ist eine gewisse Struktur zu erkennen, aber eine Ulme sieht der anderen nicht unbedingt ähnlich, vielleicht sogar überhaupt nicht, weil sie völlig unterschiedlich gewachsen ist. Feen sind entweder wunderschön oder furchtbar hässlich. Sie haben Augen, und viele haben sogar einen erkennbaren Kopf. Manche haben Gliedmaßen, die denen der Menschen in etwa gleichen, andere sehen eher wie Tiere aus, und wieder andere weisen überhaupt keine Ähnlichkeit mit irgendetwas auf. Diese Fee gehörte zu den Letzteren. Sie war lang und dürr, ihre Haut wie raue Rinde. Hätte ich ihre Augen nicht gesehen, hätte ich sie vielleicht für eine Kletterpflanze gehalten, die sich in einem Spinnennetz verfangen hatte. Um einen Vergleich zu bemühen: Eichen haben Eicheln und wie Hände geformte Blätter. Haselnusssträucher haben
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