In einer anderen Welt (German Edition)
würden, damit wir ja nicht mit Magie in Berührung kommen, hätten sie es nicht besser organisieren können. Ich frage mich, ob da ursprünglich nicht vielleicht sogar Absicht dahinter steckte. Davon weiß inzwischen bestimmt niemand mehr etwas, aber Arlingshurst hat seine Tore vor über hundert Jahren geöffnet.
Wir kochen nicht und sind von dem Essen, das uns vorgesetzt wird, vollständig abgeschnitten. Scheußlicher könnte es auch gar nicht sein. Gestern zum Beispiel gab es abends fritierte Würzfleischscheiben, völlig geschmacklosen Kartoffelbrei und zerkochten Kohl. Zum Nachtisch servierten sie uns eine Schüssel Vanillepudding mit einer halben Walnuss in der Mitte, für sechs Mädchen. Das nennen sie »Hawaiian Delight«. Mindestens einmal die Woche gibt es genau denselben Nachtisch mit einer halben kandierten Kirsche, und das heißt dann »Hawaiian Surprise«. Ich mache mir nichts aus kandierten Kirschen oder Walnüssen, was meine Beliebtheit für einen kurzen Moment minimal steigert, weil ich mich an der Streiterei darum nicht beteilige. Vanillepudding schmeckt mir auch nicht, aber manchmal habe ich solchen Hunger, dass ich ihn esse. Schlimmeres Essen, oder Essen, das noch mehr von der Natur losgelöst ist, gibt es nirgends. Wenn man einen Apfel isst, stellt man eine gewisse Verbindung zu einem Apfelbaum her. Wenn man eine Schüssel Vanillepudding mit einer kandierten Kirsche isst, stellt man zu rein gar nichts eine Verbindung her.
Wenn wir schon vom Essen reden – wir haben keine eigenen Teller oder eigene Messer, Gabeln oder Tassen. Wie fast alles, was wir verwenden, werden sie von allen gebraucht und willkürlich ausgegeben. Es besteht nicht die geringste Chance, einem Gegenstand Leben einzuhauchen, weil man ihn beispielsweise besonders gern zur Hand nimmt. Hier hat nichts ein Bewusstsein, kein Stuhl, keine Tasse. Alles bleibt einem gleichgültig.
Zu Hause war ich von Habseligkeiten umgeben, die – zumindest dunkel – wussten, wem sie gehörten. Opas Schaukelstuhl konnte es mindestens ebenso wenig leiden, dass sich jemand anderes auf ihm niederließ, wie er. Omas Hemden und Pullover passten sich so an, dass die Brust, die ihr entfernt worden war, nicht auffiel. Die Schuhe meiner Mutter vibrierten förmlich vor Energie. Unsere Spielsachen passten auf uns auf. Es gab ein Kartoffelmesser, das Oma nicht benutzen konnte – ein ganz gewöhnliches Messer mit einem braunen Griff, aber sie hatte sich einmal damit geschnitten, und seither wollte es mehr von ihrem Blut. Wenn ich die Küchenschublade durchstöberte, konnte ich spüren, wie es dumpf vor sich hinbrütete. Nach ihrem Tod ließ das nach und hörte irgendwann ganz auf. Dann waren da noch die winzigen Kaffeelöffel, die selten verwendet wurden, ein Hochzeitsgeschenk. Sie waren aus Silber, und sie wussten, dass sie etwas Besonderes waren, etwas Besseres.
Keines von diesen Dingen tat irgendetwas. Die Kaffeelöffel rührten nicht im Kaffee, ohne dass sie jemand in der Hand hielt. Sie unterhielten sich nicht mit der Zuckerzange darüber, was sie am liebsten mochten. (Allerdings hatten wir oft das Gefühl, dass sie größte Lust dazu gehabt hätten.) Ich nehme an, dass ihre Tätigkeit am ehesten psychologischer Natur war. Sie bekräftigten die Vergangenheit, sie verbanden alles miteinander, sie waren Fäden in einem Wandteppich. Hier gibt es keine Wandteppiche; wir müssen uns einzeln durchs Leben schlagen.
Ein weiterer Brief. Ich habe ihn nicht geöffnet. Aber ich habe ihn deutlich wahrgenommen, eben deswegen. Er pulsiert vor Bedeutung – unheilvoller Bedeutung, aber immerhin. Alles darum herum verstummt.
Donnerstag, 11. Oktober 1979
Miss Carroll hat sich sofort bereiterklärt, den Brief an die Bibliothek zu schreiben. »Mir ist nicht entgangen, dass du jetzt schon Arthur Ransome liest«, hat sie gesagt.
Dabei mag ich Arthur Ransome. Ich lese seine Bücher nicht nur, weil es nichts anderes gibt. Natürlich kenne ich sie schon alle, aber sie machen mir noch immer Spaß. Reine Kinderbücher ohne Sex und mit einem glücklichen Ausgang sind irgendwie nett – Ransome, Streatfield, Sachen in der Art. Sie stellen keine großen Anforderungen, und man weiß, woran man ist. Was spricht denn gegen erbauliche Geschichten über Kinder, die in Booten herumalbern oder Ballett lernen oder was auch immer? Sie feiern unbedeutende Siege und erleiden unbedeutende Niederlagen, und letztlich geht alles gut aus. Das muntert einen auf, vor allem wenn man am Tag davor
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