In einer anderen Welt (German Edition)
sodass sie mehr in dem Buch drin sind als in ihrem eigenen Kopf. Ich würde gerne wie Delany schreiben oder wie Heinlein oder Le Guin.
Beinahe hätte ich den Bus zurück zur Schule verpasst. Ich sah ihn am Fuß des Hügels kommen, und am liebsten wäre ich gerannt – ich weiß noch gut, wie es sich anfühlt, mit Volldampf loszustürmen, und das wollte ich tun, mich vornüberbeugen und riesengroße Schritte machen. Beinahe hätte ich einen solchen Schritt getan, aber wenn ich mein Bein belaste, fühlt es sich an, als würde mir jemand ein Messer reinrammen. Der Busfahrer sah mich kommen, erkannte meine Uniform und wartete. Der Bus war voller Mädchen aus der Schule, die meisten aus anderen Klassen. Fast alle wissen, oder glauben zu wissen, dass ich am Stock gehe, weil meine Mutter Voodoo-Nadeln in eine Puppe steckt. Ich suchte mir einen Platz, wo ich alleine war, aber dann setzte sich Gill Scofield aus dem Chemieunterricht neben mich.
»Was hast du denn gemacht, dass du dich verspätet hast?«, wollte sie wissen.
»Ich hab gelesen«, erklärte ich ihr. »Und dabei die Zeit vergessen.«
»Du warst nicht mit irgendwelchen Jungs verabredet?«
»Nein!«
»Du brauchst nicht so schockiert zu klingen. Die Hälfte der Mädchen hier im Bus hat genau das getan. Mehr als die Hälfe. Schau sie dir doch an.« Ich schaute. Viele von ihnen hatten sich ihre Röcke über die Knie gezogen, und ihre Lippen waren verdächtig rot.
»Wie geschmacklos!«, sagte ich.
Gill lachte. »Ich will einmal Wissenschaftlerin werden«, gestand sie mir.
»Wissenschaftlerin?«
»Ja. Und zwar eine richtige. Gestern habe ich einen Artikel über Lavoisier gelesen. Weißt du, wer das ist?«
»Er hat den Sauerstoff entdeckt. Zusammen mit Priestley.«
»Genau, und er war Franzose. Ein Aristokrat, ein Marquis. Während der Französischen Revolution wurde er guillotiniert, und er hat gesagt, er würde mit den Augen zwinkern, nachdem sie ihn enthauptet hatten, solange er bei Bewusstsein war. Er hat siebzehn Mal gezwinkert. Das nenne ich einen Wissenschaftler!«, schwärmte Gill.
Sie ist komisch. Aber ich mag sie.
Sonntag, 7. Oktober 1979
Triton zu Ende gelesen. Unglaublich. Aber je mehr ich darüber nachdenke, umso weniger verstehe ich, warum Bron Audri angelogen hat.
Die Zeit zum Briefeschreiben habe ich heute genutzt, um Base Arwel Parry »Alles Gute« zu wünschen und Onkel Rhodri eine Glückwunschkarte zu schicken.
Warum hat Bron bloß Audri angelogen?
Montag, 8. Oktober 1979
Einerseits haben Oma und Opa nie auch nur ein Wort über Sex verloren. Dabei haben sie es bestimmt getan, sonst hätten sie nicht Tantchen Teg und meine Mutter bekommen. Wahrscheinlich haben sie es nur zweimal getan. Und wie sie in der Schule und in der Kirche über Sex reden! In Mittelerde wiederum gibt es überhaupt keinen Sex, und Liebe spielt auch fast keine Rolle, was mich auf den Gedanken gebracht hat, dass die Welt ohne vielleicht besser dran wäre. Arwen ist nur ein Zugeständnis an die Schicklichkeit. Ein Gefäß für die künftigen Könige von Gondor und Arnor. Ein Siegespreis. Für ihn wäre es besser gewesen, er hätte Eowyn geheiratet – schließlich hat sie selbst Heldenhaftes geleistet – und die Númenórer ihrem Schicksal überlassen. (Schaut doch, was aus uns geworden ist!) Also ist Sex ein notwendiges Übel, um Kinder zu zeugen. Das ist normal.
Wenn man sich die Mädchen in dem Bus anschaut, und meine Mutter und ihre Männerbekanntschaften, und die Mädchen, die nachts zu anderen Mädchen ins Bett kriechen, und, nun ja, ach y fi .
Andererseits sind mir sexuelle Gefühle nicht völlig fremd. Nachdem ich Triton und Heinlein und The Charioteer gelesen habe, glaube ich, dass Sex an sich weder gut noch schlecht ist – nur weil die Gesellschaft es verteufelt, wird es eklig. Und die ganze Sache mit der Geschlechterumwandlung in Triton , da muss es doch ein ganzes Spektrum von Sexualität geben; die meisten Leute stehen irgendwo in der Mitte und fühlen sich von Männern und Frauen angezogen, wobei manche mehr in die eine oder in die andere Richtung tendieren – mit mir an einem Ende und Ralph und Laurie am anderen. Was mir an Science Fiction schon immer gefallen hat, ist, dass es einen dazu bringt, über alle möglichen Sachen nachzudenken und sie aus einem Blickwinkel zu betrachten, an den man bisher nie gedacht hat.
Von jetzt an werde ich Sex positiv gegenüberstehen.
Mittwoch, 10. Oktober 1979
Wenn sie sich in der Schule besondere Mühe geben
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