Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer anderen Welt (German Edition)

In einer anderen Welt (German Edition)

Titel: In einer anderen Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Walton
Vom Netzwerk:
Tschechow gelesen hat. Ich bin so froh, dass ich keine Russin bin.
    Trotzdem, für einen Bibliotheksausweis würde ich fast alles tun, also lächelte ich. Wenn er nur bald das Formular zurückschicken würde, könnte ich mir kommendes Wochenende einen besorgen. Ich sollte nicht immer »er« zu ihm sagen. Aber ich weiß einfach nicht, was sonst. Wie nennst du deinen Vater, wenn du ihn eben erst kennengelernt hast? »Dad« geht einfach nicht. Und obwohl er so heißt, wäre es seltsam, Daniel zu ihm zu sagen.

Freitag, 12. Oktober 1979
    Der Brief von meinem Vater kam mit der ersten Post. In dem Umschlag waren zehn Pfund (!) und das Formular, unterzeichnet. Er schreibt mir, das Geld sei für Bücher, aber ich werde auch Brötchen damit kaufen.
    Ich habe mich mit Sharon über jüdisches Essen unterhalten. Sie sagt, dass Gott ihnen vorgeschrieben hat, was sie essen sollen und was sie nicht essen sollen. Es ist etwas Besonderes, aber niemand würde davon Schaden nehmen. Sie sagt, was da auf ihrem Tablett gebracht wird, würde gut schmecken. Sie bekommt oft Rinderbraten und Fisch, und alles ist immer gut durch. Allerdings ist es auch kalt, weil es nicht einmal zusammen mit unserem Essen aufgewärmt werden darf. Sie sagt, das Brot, das sie bekommt, sei köstlich, nur eben ein wenig altbacken, weil es aus Manchester stammt, und das ist weit weg. Ich habe den Eindruck, dass es ziemlich umständlich ist, eine Jüdin zu sein, und es wäre sehr ärgerlich, wenn ich samstags kein Geld mehr ausgeben könnte, denn das ist der einzige Tag, an dem wir Ausgang haben. Aber vielleicht wäre es die Sache wert.
    Es war nicht einfach, sie dazu zu bringen, darüber zu reden. Sie ist deswegen schon oft gehänselt worden, und sie benutzt es auch als Waffe, um bestimmten Mädchen Angst einzujagen, also ist es nur vernünftig, wenn sie nicht möchte, dass andere allzu viel darüber wissen. Ich musste ihr vom jüdischen Vater meines Vaters erzählen. Sie sagt, deswegen sei ich noch lange keine Jüdin, man könne nicht nur zum Teil eine Jüdin sein, und außerdem würde sich das über die Mutter vererben. Sie sagt, wenn ich eine Jüdin sein wolle, müsse ich konvertieren.
    Ich weiß noch, wie einmal ein Missionar in unsere Kirche kam und uns erzählte, wie er die Heiden dazu brachte zu konvertieren. Er sagte, dass manche nur wegen dem kostenlosen Essen konvertierten und bei der nächsten Krise wieder zu ihren alten Göttern zurückkehrten. Diese Leute nannte er »Reis-Christen«. Also könnte ich vielleicht eine Reis-Jüdin werden.
    Allerdings würde das meinen Opa auf die Palme bringen, wenn er davon erfuhr. Meine Mutter würde es ihm bestimmt erzählen, in der Hoffnung, er bekäme einen weiteren Herzinfarkt.

Samstag, 13. Oktober 1979
    Das Wetter ist vergangene Woche vollständig umgeschlagen. Der letzte Samstag war mild und sonnig, der Herbst warf einen zögernden Blick über die Schulter in Richtung Sommer. Heute ist es nass und stürmisch, offenbar kann der Herbst den Winter plötzlich nicht mehr erwarten. Der Boden war vor lauter nasser Blätter ganz glitschig. Oswestry wirkte sogar noch weniger einladend als sonst. Nachdem Gill mich darauf hingewiesen hat, ist mir aufgefallen, dass die Mädchen im Bus kichernd einen verbotenen Lippenstift herumreichen. Sie erinnern mich an Susan in Der letzte Kampf . Ich glitt in einen Tagtraum hinüber, in dem ich C. S. Lewis begegnete, obwohl ich weiß, dass er tot ist. Das war so peinlich, dass ich nicht darüber reden möchte.
    Bewaffnet mit meinem Brief und meinem unterschriebenen Formular ging ich in die Bibliothek und wurde von einer freundlichen Bibliothekarin begrüßt, die mir bestimmt auch so einen Ausweis ausgestellt hätte. Sie sah mich kaum an. Jetzt habe ich einen Satz von acht Kärtchen, die es mir gestatten, jederzeit acht Bücher auszuleihen – genau genommen an jedem Samstagvormittag, wenn es mir gelingt, vor zwölf Uhr hier zu sein. Und für den Fall, dass ich etwas bräuchte, das sie nicht da hatten: Fernleihe, so erklärte sie mir, wäre für unter Sechzehnjährige kostenlos. Also konnte ich alles bestellen, was ich lesen wollte, und sie würden es mir besorgen. Ich muss nur Autor und Titel wissen. Den Anfang machte ich mit allen Büchern von Mary Renault, die in The Charioteer aufgelistet waren und die ich noch nicht kannte. Ich werde eine Aufstellung der Bücher machen, die in anderen Büchern vorne aufgelistet sind, und nächste Woche mitnehmen. Sie sagte, dass sie mir jedes Buch

Weitere Kostenlose Bücher