In einer anderen Welt (German Edition)
ansonsten sieht er kein bisschen wie ein Jude aus. Seine Haare – und er hat noch eine Menge davon, obwohl er alt ist – sind ganz weiß. Er trägt eine bestickte Weste, die wirklich schön ist, allerdings etwas fadenscheinig. Er ist furchtbar alt.
Im Auto haben mein Vater und ich die ganze Zeit über Bücher geredet. Sam erwähnte er gar nicht, außer dass wir zu ihm fuhren. Ich war total neugierig auf das Hotel und auf London, und so war es fast eine Überraschung, als wir dort eintrafen. Mein Vater drückte mehrmals auf die Hupe, und die Tür ging auf, und Sam kam heraus. Mein Vater stellte uns einander vor, noch draußen auf dem Bürgersteig, und Sam hat uns umarmt, mich und meinen Vater. Erst war ich ein wenig erschrocken, denn er ist so anders als die Leute, die ich sonst kenne, und überhaupt nicht wie Opa. Es ist leicht, meinen Vater und seine Schwestern auf Abstand zu halten, auch in Gedanken, wahrscheinlich, weil sie Engländer sind. Aber Sam ist kein Engländer, ganz und gar nicht, und er schien mich augenblicklich zu akzeptieren, während ich bei ihnen immer das grässliche Gefühl habe, ich müsste mich erst noch bewähren.
Sam bat uns herein und stellte mich seiner Vermieterin als seine Enkelin vor, und sie sagte, die Ähnlichkeit wäre nicht zu übersehen. »Morwenna schlägt nach meiner Familie«, sagte er, als würde er mich schon seit Jahren kennen. »Schau doch, die Farbe. Sie sieht aus wie meine Schwester Rivka, zichrona livracha .«
Ich schaute ihn verwirrt an, und er übersetzte: »Gesegnet sei ihr Angedenken.« Das gefällt mir. Eine nette Art zu erklären, dass jemand tot ist, ohne dass deswegen alle aufhören zu reden. Ich habe ihn gefragt, wie man das buchstabiert und was für eine Sprache es ist. Es ist Hebräisch. Die Juden beten grundsätzlich auf Hebräisch, sagt Sam. Vielleicht werde ich eines Tages in der Lage sein zu sagen: »Meine Schwester Mor, zichrona livracha .« Ganz einfach so.
Dann hat er uns mit nach oben genommen, in sein kleines Zimmer. Es muss komisch sein, bei jemand anderem im Haus zu wohnen. Ich sah sofort, dass er kein Geld hatte. Ich hätte es selbst dann gewusst, wenn ich es nicht gewusst hätte. In dem Zimmer befinden sich ein Bett, ein Waschbecken und ein Sessel. Überall stapeln sich Bücher. Sogar auf der Kommode, neben einem elektrischen Samowar und den Gläsern. Er hat eine Katze, eine große, fette rötlich-weiße Katze, die »Vorsitzender Mao« heißt oder vielleicht auch »Vorsitzender Miau«. Sie hat sich auf dem Bett breitgemacht, aber als ich mich zu ihr setzte, ganz auf den Rand, sprang sie mir auf den Schoß. Sam erklärte – ich musste Sam zu ihm sagen –, das sei ein Zeichen, dass sie mich mochte, und das käme nicht oft vor. Ich streichelte sie, ganz behutsam, und sie kratzte mich nicht nach kurzer Zeit, wie Persimmon das immer tut, Tantchen Tegs Katze. Sie rollte sich zusammen und schlief ein.
Sam machte Tee, für sich und für mich. Meinem Vater schenkte er Whisky ein. (Er trinkt furchtbar viel. Im Moment ist er unten in der Hotelbar. Er raucht auch viel. Unter den gegebenen Umständen wäre es allerdings nicht nett zu sagen, dass er viele Laster hat, schließlich hat er mir geholfen, von meiner Mutter wegzukommen, und er bezahlt für das Internat. So hat er sich das bestimmt nicht vorgestellt.) Sam servierte den Tee in Gläsern mit Metallgriffen und tat auch keine Milch und keinen Zucker hinein, was mir sehr lieb war. Er schmeckte wirklich gut. Was mich sehr überraschte, weil ich eigentlich keinen Tee mag, ich trank ihn nur aus Höflichkeit. Das Wasser entnahm er dem elektrischen Samowar, der es, wie er erklärte, auf der richtigen Temperatur hielt.
Nach einer Weile fing ich an, in seinen Büchern zu stöbern, und auf einem Stapel entdeckte ich das Kommunistische Manifest . Offenbar habe ich dabei irgendetwas gebrummt, denn sie schauten beide zu mir herüber. »Ich habe nur gesehen, dass Sie das Kommunistische Manifest haben«, sagte ich.
Sam lachte. »Mein guter Freund Dr. Schechter hat es mir geliehen.«
»Ich habe es erst vor Kurzem gelesen.«
Erneut lachte er. »Es ist ein schöner Traum, aber umsetzen lässt sich das nicht. Schaut doch, was gerade in Russland passiert, oder in Polen. Marx ist wie Platon, er hat Träume, die niemals wahr werden, solange die Menschen Menschen sind. Das will Dr. Schechter einfach nicht begreifen.«
»Über Platon habe ich auch schon etwas gelesen«, sagte ich, denn er kommt natürlich in Der
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