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In einer anderen Welt (German Edition)

In einer anderen Welt (German Edition)

Titel: In einer anderen Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Walton
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weiß nicht, ob sie das macht, weil es mit Magie zu tun hat, oder weil sie verrückt ist. Das lässt sich nur sehr schwer auseinanderhalten. Manchmal sieht sie aus wie eine Vogelscheuche und dann wieder völlig normal. Letzteres vor allem dann, wenn es zweckmäßig ist – vor Gericht, zum Beispiel, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Vor langer Zeit hat sie als Tagesmutter gearbeitet, und da war sie stets angemessen gekleidet – aber da war Oma auch noch am Leben und hat sie im Zaum gehalten. Allerdings habe ich auch schon gesehen, wie sie in ihrem Hochzeitskleid einkaufen ging, wie sie im Juli einen Wintermantel trug oder im Januar fast gar nichts. Ihr Haar ist lang und schwarz, und selbst gekämmt sieht es aus wie ein Schlangennest. In einem karierten Wollmantel und mit einem Kopftuch aus Seide sähe sie aus, als würde sie sich verkleiden – als hätte man ein Tuch über einen Altar gezogen, auf dem etwas geopfert worden war.
    Mein Vater traf zusammen mit zahlreichen anderen Eltern ein, und niemand machte mir gegenüber eine Bemerkung über ihn. Er wirkte recht entspannt. Während ich ihn wieder nur verstohlen von der Seite ansah. Ich weiß nicht, warum, es ist wirklich absurd, schließlich haben wir uns regelmäßig geschrieben und überhaupt. Er fuhr mit mir zurück nach Old Hall.
    »Heute Abend bleiben wir hier, und morgen treffen wir uns mit meinem Vater«, sagte er. Das Scheinwerferlicht reichte weit in die Nacht hinein. Ich konnte sehen, wie Kaninchen aus dem Weg hüpften, und Zweige wurden wie Knochenfinger aus der Finsternis gerissen und verschwanden wieder. »Wir werden in einem Hotel übernachten. Hast du das schon mal getan?«
    »Jeden Sommer«, erwiderte ich. »Da sind wir immer nach Pembrokeshire runtergefahren und haben zwei Wochen lang in einem Hotel gewohnt. Jedes Jahr im gleichen.« Als ich daran dachte, blieben mir die Worte im Hals stecken, und ich musste ein Schluchzen unterdrücken. Das war immer so schön gewesen! Opa fuhr uns an verschiedene Strände und zu Schlössern und Menhiren. Oma erklärte uns dann immer den geschichtlichen Hintergrund. Sie war Lehrerin, wie alle in meiner Familie, auch wenn ich das ganz bestimmt nicht werden will. In den Ferien war sie immer sehr glücklich, denn dann musste sie nicht kochen, und sie und Tantchen Teg konnten zusammen ausspannen. Manchmal kam meine Mutter mit, saß in Cafés, rauchte und aß merkwürdige Sachen. Wenn sie nicht dabei war, machte es natürlich mehr Spaß. Aber in Pembrokeshire konnten wir ihr leichter aus dem Weg gehen, und sie wirkte irgendwie kleiner. Mor und ich hatten unsere ganz speziellen Spiele, und im Hotel wohnten immer auch andere Kinder, die wir in diese Spiele mit einbezogen und auch dazu brachten, für die Eltern eine Vorführung auf die Beine zu stellen.
    »War das Essen gut?«, fragte er.
    »Großartig. Lauter besondere Sachen wie Melone und Makrele.« Köstliche Sachen, die es zu Hause nie gab.
    »Tja, da, wo wir hingehen, ist das Essen auch gut. Wie ist das Essen in der Schule?«
    »Schauderhaft«, sagte ich, und als ich es beschrieb, musste er lachen. »Besteht irgendeine Möglichkeit, dass ich einen Abstecher nach Südwales machen kann?«
    »Ich kann dich nicht dorthin bringen, wie du vorgeschlagen hast. Aber wenn du für ein paar Tage mit dem Zug hinfahren möchtest, habe ich nichts dagegen.«
    Das mit dem Zug hörte sich nicht gut an, denn wenn sie mich da abpasste, saß ich in der Falle. Aber sie würde wahrscheinlich nicht in meine Nähe kommen. Sie würde gar nichts davon erfahren, denn ich würde von der Magie die Finger lassen.
    Als wir endlich Old Hall erreichten, saßen die Tanten im Gesellschaftszimmer. Das heißt nicht so, weil sie Gesellschaften geben, sondern weil sie da einander Gesellschaft leisten. Allerdings redeten sie kaum ein Wort. Ich gab ihnen einen Kuss, schaute noch bei Daniels Bücherregalen vorbei und zog mich dann mit Das Ende der Ewigkeit ins Bett zurück.

Samstag, 27. Oktober 1979
    Ich hatte ja keine Ahnung, dass London so groß ist. Es nimmt überhaupt kein Ende! Erst schleicht es sich ganz langsam an, und dann bist du plötzlich mittendrin. Zwischen den Ausläufern befinden sich noch große Lücken, aber dann drängen sich die Häuser immer dichter aneinander.
    Der Vater meines Vaters heißt Sam. Er hat einen seltsamen Akzent. Ob sie wohl auch »rote Socke« zu ihm sagen? Er wohnt in einem Stadtteil von London, der Mile End heißt, und er trägt eine Scheitelkappe, aber

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